Wer von uns wäre nicht gern einmal Enkelkind, Freund, Geliebte, Sohn, Ehefrau, Weggefährte, Untergebener oder auch Feind von ihm, dem feinsinnigen, vielfältigen und doch so unverwechselbaren Bruno Ganz, der immer ganz nah – nomen est omen – manchmal sogar schmerzhaft nah seinen Rollen ist. Der mit ihnen verschmilzt, in sie eintaucht, hineinkriecht, sie durchleuchtet, abhört wie mit einem Stethoskop und alle Nuancen, Vibrationen oder auch Urgewalten der Figuren auf seine ganz eigene, zutiefst wohlwollende, nahezu ganzheitliche Art nicht zum Leben erweckt, sondern sie mit leisen, genau hinzielenden Handbewegungen zum Leben führt, sei es auf der Theaterbühne oder der Filmleinwand. Seine Figuren treten mit ruhiger Gestik auf uns zu und blicken uns an. Und es ist vor allem dieses Lächeln, vor dem wir alle Waffen strecken, hätten wir je welche in der Hand gehabt. Das feine, kaum merkliche Lächeln. Das von seinem Mund aufsteigt und in seinen Augen zu etwas Grossem heranwächst: dem Staunen, dem Kindlich-Naiven, der Milde, der Geduld , dem Trost. Ja – das Spiel von Bruno Ganz hat etwas Tröstliches.
Angekommen fühlt sich der Zuschauer, an die Hand und manchmal auch in den Arm genommen. Wahrgenommen. Die Klarheit und Direktheit seines Blickes, durch zärtliche Ironie gemildert, hält uns fest. Und erzwingt in uns Raum für Ehrlichkeit und Wahrheit. Vor Bruno Ganz kann sich niemand verstecken. Und niemand kalt bleiben. Da regt sich immer etwas. Ein Fragen, ein Ungläubigsein, ein Mitgefühl, ein Weiterdenken, ein Nachhängen. Was sein Blick nur umreisst, gibt seine charakteristische Stimme als Farben hinzu, die pastelligen natürlich, die selbst die heftigsten Ausbrüche noch abfedern und so dem Gegenüber Verständnis abringen. Wäre es sonst überhaupt möglich gewesen, einem Adolf Hitler in Oliver Hirschbiegels Film „Der Untergang“ über die letzte Tage in Berlins Führerbunker zuzusehen, wie er einerseits ganz selbstzufrieden bei einem Ständchen die zuckersüssen Kinder des Joseph Goebbels auf den Knien wiegt und andererseits ausser sich vor Wut den Untergang der Berliner Zivilbevölkerung geradezu herbeischreit als selbstverschuldet und notwendig? Eine Traumrolle sei das für ihn nicht gewesen, so Bruno Ganz, der jede Geste, jeden Tick, jede Stimmnuance mit leidenschaftlicher Akribie vorbereitet hatte. War es seine schwerste Rolle? Vielleicht.
Und seine leichteste? Die leichtfüssigste sicherlich ist die des formvollendeten Kellners Fernando, der durch seine geradlinige, aufmerksame Art das Herz der enttäuschten Rosalba gewinnt, die in Venedig strandet und durch die Begegnung mit ihm zu neuer Liebe und einem neuen Leben findet. Ein Märchen für Erwachsene also, unbeschwert wie ein übersonnter Sommertag.
Die bodenständigste? Ohne Zweifel, die des Grossvaters im neuesten Heidi-Film von Alain Gsponer. Urschweizerisch, kraftvoll, derb beinah und kauzig. Mit Rauschebart und tiefen Furchen, die den grobbehauenen Steinen seiner Hütte ähneln hoch oben auf der Alm, und die sich mehr und glätten, je näher das kleine lebenssprühende Mädchen seinem Herzen rückt.
Die klassischste? Der Graf natürlich in Éric Rohmers Adaption der Kleistschen Novelle „Die Marquise von O…“ von 1976. Jung ist Bruno Ganz hier, schön und elegant – und doch schon mit derselben sensiblen Gestik ausgestattet und der zwingenden Sanftmut seines Blickes, die all seine Rollen prägen wie ein fein geschwungenes Signet.
Und die abgehobenste? Ist wohl der Engel Damiel, der die Stadt Berlin und seine Menschen mit seinem warmen Blick umschließt und deren Erdenschwere anhebt. Und der letztlich genau diese Erdenschwere braucht, damit sie ihm den notwendigen Halt gibt im vorausahnenden Wankelmut von Leben und Liebe, dann nämlich, als er sich entschliesst, ein Mensch zu werden.
Bruno Ganz (* 22. März 1941 in Zürich-Seebach) ist ein international tätiger Schweizer Schauspieler und seit 1996 der Träger des Iffland-Ringes. Er gilt als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Schauspieler der Gegenwart. Derzeit ist er als Sigmund Freud im Film „Der Trafikant“ nach dem Roman von Robert Seethaler auf der Leinwand zu sehen.