Das Kunsthaus widmet Niki de Saint Phalle (1930–2002) eine umfassende Retrospektive, die das breite Spektrum ihres kreativen Schaffens anhand von 100 Arbeiten anschaulich präsentiert: Einerseits erlauben Assemblagen und Malereien, Theaterarchitekturen und Zeichnungen, aber auch Filme und Skulpturen einen tiefen Einblick in die tragisch-faszinierende Biografie. Andererseits offenbart sich ein Aktionismus, der durch klimapolitische und feministische Themen noch heute grosse Aktualität besitzt.
Reflexion Es ist ein facettenreiches Œuvre, das amüsante bis traurige Aspekte zeigt und Ereignisse eines aufregenden Lebens virtuos in fantasievolle und verspielte Kunstwerke umsetzt. Geboren als Catherine Marie-Agnès Fal de Saint Phalle im noblen Pariser Vorort Neuilly-sur-Seine als Tochter eines Franzosen und einer US-Amerikanerin, musste Niki schon als Kind traumatische Erfahrungen sammeln. Ihre Beziehung zur Mutter war ambivalent, die zum Vater, der sie sexuell missbrauchte, hingegen katastrophal. Mit der imposanten Skulptur Die Braut zu Pferd nahm sich de Saint Phalle der komplizierten Familiensituation an: Das Tier mutet trotz Gold und Schmuck morbid an, und ebenso leblos erscheint die darauf sitzende, erstarrte Frau in weissem Schleier. Sind hier ihre Eltern dargestellt? Ein um 1967 verfasster Text, der bei der Arbeit angebracht ist, legt das zumindest nahe: «Ich habe den Papa umgebracht, die Mutter schoss ich tot, den Kopf hab ich ihm abgehackt, ich musst’ es leider tun. O arme Mamma, sei nicht bös’, du warst so schön und gut. Dein neues Kleid mit Blut bespritzt, die Flecken gehen nicht mehr raus. Ich musst’ es leider tun. Ich bin ein armes Waisenkind, hab keine Eltern mehr. Sie haben mir so viel geschenkt und müssen jetzt im Eisschrank frier’n, ich musst’ es leider tun.»
Distanz Kritik artikulierte Niki de Saint Phalle auch durch die grossformatige Figurengruppe Tea Party, ou le Thé chez Angelina. Sie entstand zu Beginn der 1970er-Jahre, dargestellt sind deformierte, fette und unattraktive Frauen. Als Menüs liegen eine Gliederpuppe mit gespreizten Beinen und ein Spielzeugkrokodil ohne Hinterleib auf dem Tisch. Es sind unkonventionelle Speisen, die einen sexuellen Mangel kompensieren sollen – so auch bei Nikis Mutter, über die de Saint Phalle schrieb: «Du warst niemals die grosse Heilige, die du vorgabst zu sein. Ich erinnere mich sehr gut an einige deiner Liebhaber, als ich ein Teenager war.» Und weiter: «ICH WÜRDE NICHT WIE DU WERDEN, MUTTER. Du hast genommen, was du von deinen Eltern bekamst. Deine Religion, männliche und weibliche Rollen, Gedanken über die Gesellschaft und Sicherheit.» Personen dieser Art, wie sie bei der Tea Party vorkommen, sind auch im Storybook mit dem Namen The Devouring Mothers abgebildet. Die Serie umfasst 28 farbige Illustrationen. Einige davon fertigte Niki de Saint Phalle als Plastiken an. Das Kunsthaus kontextualisierte auch diese Arbeiten mit einigen Zeilen: «Als ich die Skulpturen Verschlingende Mütter machte, fragte mich meine Mutter: ‹Bin ich das, Liebling?› Und ich sagte: ‹O nein, Mutter. GANZ UND GAR NICHT.› … Ich log.»
Boom! Geradezu therapeutisch liest sich das Schiessbild, das Tableau tir, aus dem Jahr 1961. Niki de Saint Phalle begann damals das Publikum in den Entstehungsprozess ihrer Werke einzubeziehen. Dieses konnte Dartpfeile auf die Arbeiten schleudern oder gar darauf schiessen. Destruktion und Aktionismus bestimmen hier die Genese entscheidend. Farbbeutel, die auf der weissen Leinwand oder auf Gipsreliefs montiert waren, platzten und liessen ein unkontrolliertes, spontanes, aber auch expressives Gemälde entstehen. De Saint Phalle schoss teils selbst auf ihre Bilder und rechnete zugleich mit der dominanten patriarchalischen Gesellschaft ab. So auch in Heads of State (Study for King-Kong) von 1963, das (satirische) Masken von Fidel Castro, Nikita Chruschtschow oder John F. Kennedy versammelt.
Nanas Bunte und vollschlanke Frauenfiguren in gigantischem Massstab, die meist tanzend und lebensfroh dargestellt sind, schuf die Künstlerin erstmals Mitte der sechziger Jahre. Anfangs bestanden sie aus Draht, Pappmaché, Stoff und Wolle. Eingehend dokumentiert die Ausstellung die vielleicht prominenteste dieser Nanas: 1966 erarbeitete Niki de Saint Phalle gemeinsam mit Jean Tinguely, ihrem späteren Ehemann, und einem Team von Helfenden die Puppe Hon (Schwedisch für «sie»). Die rund 25 Meter lange und bis zu 6 Meter hohe Polyesterplastik befand sich im Moderna Museet in Stockholm und bot im Innern ein reichhaltiges Raumprogramm: Betretbar durch eine Vagina, lag passend in der einen Brust eine Milchbar, zudem gab es eine mechanische Gebärmutter im Bauch oder es lief ein Film mit Greta Garbo in einem der beiden Arme. Noch heute liest sich die Skulptur als bissig-ironischer Kommentar zum klassisch-konservativen Frauenbild.
Politik Nicht nur Feminismus und Emanzipation, sondern auch AIDS und die drohende Klimakatastrophe thematisierte de Saint Phalle in ihrem Schaffen. So unterstreicht eine 2001 signierte Lithografie, die reichlich Text beinhaltet, ihre Forderung nach dem Recht auf Abtreibung. Im gleichen Jahr setzte sie sich auch mit der globalen Erwärmung auseinander und kritisierte die US-amerikanische Waffenlobby. 1986 gestaltete sie das mit dem Mediziner Silvio Barandun konzipierte und in verschiedenen Sprachen herausgegebene Buch Le Sida: C’est facile à eviter (auf Deutsch: AIDS: Vom Händchenhalten kriegt man’s nicht). Stimuliert durch den Tod von engen Freunden, erarbeitete Niki de Saint Phalle ein ergreifendes künstlerisch-aufklärerisches Manifest zu einer stigmatisierten Krankheit.
Fantasie Sinnlichere Töne schlug die schon zu Lebzeiten erfolgreiche Avantgardistin mit dem im italienischen Garavicchio realisierten Tarotgarten an. Basierend auf Motiven der Tarotkarten kreierte sie einen eigenen, dreidimensionalen Kosmos mit bunten Keramiken und etlichen Spiegeln. Mehrere Modelle, aber auch diverse Fotografien von Leonardo Bezzola und zahlreiche farbige Lithografien veranschaulichen eindrucksvoll die Entstehungsetappen des monumentalen Baus. Eine spielerische Komponente in de Saint Phalles Œuvre belegen schliesslich auch viele andere Kunstwerke: Ausgestellt ist die Trilogie des obélisques von 1987, wobei die vermeintlichen Kultgegenstände mit Blumen, einer Katze oder mit Totenschädeln ganz unterschiedlich bemalt sind, und Queen of the Desert aus dem Jahr 1994 demonstriert die Freude an der Kinetik, dreht doch ein Elektromotor die in einer Wüstenszenerie platzierten Objekte. Das Kunsthaus ehrt Niki de Saint Phalle mit einem erstaunlich vielseitigen Panorama, das Angst und Humor, aber auch Trauer und Zorn in unterschiedlichster Manier artikuliert. Und es offenbart, dass die einzigartige Frau auch ausserhalb von Museen bedeutende Spuren hinterliess.