Die Geschichte der Kaffeehäuser in Europa ist faszinierend und reicht zurück bis ins 17. Jahrhundert. Die erste bekannte Kaffeestube wurde 1645 in Venedig eröffnet. Bald darauf verbreitete sich die Idee des neuen Lebensstils in ganz Europa. In den folgenden Jahrzehnten wurden Kaffeehäuser in vielen europäischen Städten zu Zentren des geistigen und gesellschaftlichen Lebens. Vor allem in Städten wie Wien, London, Paris und Istanbul florierten sie und wurden zu Treffpunkten für Schriftsteller, Künstler, Denker und Geschäftsleute.

Im 19. Jahrhundert erlebten die Cafeterias eine Blütezeit im Zeitalter der Aufklärung. Hier wurden Ideen ausgetauscht, politische Debatten geführt und literarische Werke geschrieben, gelesen und diskutiert. Kaffeehäuser wurden zu Orten, an denen sich Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten und Herkunft trafen, um zu debattieren und sich zu informieren. Mit der Zeit entwickelten sich die Bistros auch zu Orten, an denen man Zeitungen lesen, Schach spielen oder einfach nur entspannen konnte. Sie waren nicht nur Orte des Kaffeegenusses, sondern auch des gesellschaftlichen Lebens. Das Café Odeon in Zürich blickt auf eine faszinierende Geschichte zurück. Es wurde 1911 eröffnet und ist damit eines der ältesten Cafés der Stadt. Von Anfang an zog das Café Künstler, Schriftsteller, Intellektuelle, Politiker und andere Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland an. Es war Treffpunkt für Diskussionen, kulturellen Austausch und gesellschaftliche Anlässe.

Fast ehrfürchtig betrete ich das Odeon direkt am Bellevue-Platz. Dutzende von Gästen bevölkern zu bereits vorgerückter Stunde den schönen Saal. Zigarettenrauch hängt über der Bar und den Tischen. Irgendwie bin ich in die Vergangenheit geraten. Hier diskutieren junge Männer im Frack über das aktuelle Weltgeschehen. Dort sitzt einsam ein Schreiberling über seinen Notizen. Niemand wird sein Werk je lesen, niemand wird den Dichter beim Namen kennen ausser dem Kellner, der ihm alle 25 Minuten Rotwein nachschenkt, pünktlich wie ein Uhrwerk. Dort dirigiert ein Komponist seine Ouvertüre, die er heute Morgen geschrieben hat, summt leise vor sich hin, zieht an seiner filterlosen Zigarette und ändert mit spitzem Bleistift die letzten Zeichen auf dem Notenblatt. Ulrich Wille spielt mit seinen Kollegen Karten. Er wird bald unser Land im Ersten Weltkrieg anführen. Stefan Zweig übt sich im Schach, spielt aber bei Weitem nicht so gut wie in der Schachnovelle. Der Kolumnist der Zürcher Zeitung sucht nach einer Idee für das Morgenblatt. In der Ecke hinter seiner Zeitung versteckt sich Wladimir Lenin, sein Kopf raucht mehr als seine Zigarre. Gelächter an der Bar, die holländische Tänzerin Mata Hari amüsiert sich mit ihren Verehrern und spioniert nebenbei, was es zu spionieren gibt. An einem anderen Tisch wird politisiert. Der Journalist schnappt etwas auf, macht sich kurz Notizen in seinem Block, legt Kleingeld auf den Tresen und verlässt das Lokal in Richtung Redaktion. Was er zu hören glaubte und sich dabei zusammengereimt hat, lesen die Gäste morgen in der Frühausgabe seiner Tageszeitung. Es gibt keine Polizeistunde, keine kalte Küche und keine frisch geputzte Kaffeemaschine. Die Wanduhr tickt, ohne die Stunden zu zählen. Nachtfalter umschwirren die prächtigen Kronleuchter. Gäste verlassen gedankenverloren das Lokal, andere füllen grölend die leer gewordenen Plätze. Champagnerkorken knallen.

In den 1920er und 1930er Jahren erlebte das Odeon seine Blütezeit als kultureller Hotspot. Berühmte Persönlichkeiten wie James Joyce, Albert Einstein, Wladimir Lenin und viele andere verkehrten hier. Es wurde zu einem Symbol für die intellektuelle und künstlerische Szene Zürichs und der ganzen deutschsprachigen Schweiz.

Während des Zweiten Weltkriegs und in den folgenden Jahrzehnten behielt das Odeon seine Bedeutung als Ort des Austausches, auch wenn es Zeiten des Wandels und der Herausforderungen durchlebte. In den letzten Jahren erlebte das Café eine Renaissance und ist heute bei Einheimischen und Touristen gleichermassen beliebt. Der nach dem Bauherrn Julius Uster benannte Usterhof an der Ecke des heutigen Limmatquais und der Rämistrasse ist ein mehrstöckiges Gebäude mit Tuffsteinfassade. Das ursprüngliche Mobiliar des Café Odeon, das in Anlehnung an ein traditionelles Wiener Kaffeehaus zum Jugendstil der Räumlichkeiten passte, war 1972 nach Geschäftsaufgabe verkauft worden. Dank eines Bürgerbegehrens wurde das Kaffeehaus noch im selben Jahr auf verkleinerter Fläche wiedereröffnet und vom Gastro-Unternehmer Fred Tschanz weitergeführt.

Im Laufe der Jahrhunderte haben sich Kaffeehäuser zu Symbolen der Kultur und des Lebensstils entwickelt. Heute sind sie oft auch Arbeitsorte oder bieten WLAN-Zugang für digitale Nomaden. Ihre lange Geschichte als Treffpunkt für den Austausch von Ideen und die Pflege sozialer Beziehungen ist jedoch ungebrochen. Das Odeon bleibt ein bedeutendes kulturelles Wahrzeichen in Zürich und trägt weiterhin zur lebendigen Kultur- und Café-Szene der Stadt bei. Das Café bleibt seinem Namen gerecht, so wie in der Antike kennt man das Gebäude als Treffpunkt für Aufführungen sowie für Vorträge und Versammlungen.

Zurück in der Gegenwart sitze ich in der Ecke, in der einst James Joyce Ideen für seinen Ulysses sammelte. Die Sitzmöbel wurden inzwischen restauriert, das Holz abgeschliffen und neu lackiert. Die Polsterung der Sitze und Bänke wurde komplett erneuert. Die Tischplatten aus Marmor sind nicht original, sondern orientieren sich an denen aus den 1950er Jahren. Da der Marmor bereits brüchig war, konnten die Platten nicht mehr aufgearbeitet werden, sondern wurden durch neue, aber sehr ähnlich gemaserte Tischplatten ersetzt. Die Kraft und der Geist, welche die Künstler, Schriftsteller, Intellektuellen und Politiker den Möbeln eingeprägt haben, sind verschwunden und werden sich nicht auf mich übertragen.

Mir bleibt als kleiner Trost Leopold Bloom, die fiktive Figur aus dem erwähnten Roman von James Joyce, und ich fühle mich zurückversetzt in einen Tag wie den 16. Juni 1904. Vierzig Seiten Gedankenstrom ohne Punkt und Komma.

Und dazu ein Cüpli. Dies klingt feierlich und selbstbewusst.

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