Sie gehört zu Zürich wie die blauen Trams, die sich quietschend einen Weg durch die Stadt bahnen. Wie der weisse Schneemann, dessen Haupt jedes Frühjahr unter den Blicken tausender Schaulustiger in winzige Stücke zerspringt. Wie das kleine Cabaret, das ganz bescheiden zwischen Gewürzhandlungen und duftenden Seifenläden steht und noch vor 100 Jahren für viel Aufruhr sorgte. Die Confiserie Sprüngli am Paradeplatz. Ein Besuch.
Man kann zwischen sechs verschiedenen Tramlinien aussuchen, um zum Zürcher Paradeplatz zu gelangen. Am Ziel angekommen, fühlt man sich, als wäre man im Herzen Zürichs angelangt: Von links und rechts rattern die Trams an einem vorbei und klingeln voller Ungeduld orientierungslose Touristen an, die mitten auf den Tramschienen stehen geblieben sind.
Ein Schritt aus dem Gewusel heraus und man steht vor dem Sprüngli. Mit seinen schwarzen Glasfenstern, von der goldenen Schrift geziert, und der weissen Markise steht die Confiserie zeitlos da. Keine aufdringliche Reklame oder bunte Schilder – es passt sich perfekt in das altehrwürdige Gebäude aus dunklem Stein mit den raffiniert geschlungenen Eisenbalkonen ein. So, als wäre das Sprüngli schon seit eh und je Teil des Gebäudes.
So ruhig wie es von aussen wirkt, so lebendig geht es innen zu. Man könnte meinen, mitten am Paradeplatz warte das Café mit einer ganz bestimmten Klientel auf: Anzüge, Aktentaschen und Armani. Doch der Schein trügt. Die Gäste sind so bunt gemischt wie die Luxemburgerli auf der Etagere. Freitag-Taschen stehen neben Einkaufstüten von Chanel. Biertrinker sitzen neben Teekennern. iPads liegen auf dem einen Tisch, Kulturmagazine und Krimis auf den anderen. Hier wird über Fussball diskutiert, dort über Kreuzworträtseln gebrütet. «Es ist wohl ein wenig laut hier», gibt der ältere Herr, der gegenüber der Dame mit dem Kreuzworträtsel sitzt, zu. «Aber seit ich pensioniert bin, lese ich meine Zeitung lieber unter Leuten.» Ein Gipfeli mit Kaffee gehört für die Heimgartners zum morgendlichen Samstagsritual – statt zuhause nun im Sprüngli. «Es gibt kein zweites Café, das es mit diesem aufnehmen könnte. Das Sprüngli steht für mich für Beständigkeit und Tradition.»
Auch der Gast am anderen Ende des Raums zeichnet sich durch Beständigkeit aus: «Laut Erzählungen meiner Mutter war schon meine Urgrossmutter Stammgast hier.» Sie selbst besucht das Café seit über 20 Jahren etwa zweimal in der Woche. Hier fühlt sich Sabine Rindlisbacher wohl: «Ich kann alleine am Tisch sitzen und fühle mich trotzdem nicht alleine. Das Sprüngli ist für mich wie mein erweitertes Wohnzimmer.» Der kleine Junge neben ihr nickt immer wieder, wie um die Worte seiner Mutter zu bekräftigen, und wartet geduldig auf die Vanilleglace, seine Lieblingssorte.
Am Tisch nebenan wird mehr auf die Linie geachtet. Die graziöse Dame im eleganten blauen Kostüm beugt sich konzentriert über ihr Granola-Müsli. In einem Teesieb zieht der frische Earl Grey im Kännchen: «Hier ist der einzige Ort an der Bahnhofstrasse, an dem man einen richtigen Tee bekommt. Dieser Beuteltee schmeckt immer wie heisses Wasser mit Duft», stellt sie mit französischem Akzent fest. Sie arbeite in einer Boutique gleich um die Ecke. Ihren Namen wolle sie nicht nennen, meint sie geheimnisvoll, aber sie besuche das Sprüngli schon seit 24 Jahren. Dann beugt sie sich wieder über ihr Frühstück – ihre Pause scheint bald vorbei zu sein. Eine letzte Frage noch: Was bedeutet Ihnen denn dieser Ort nach so vielen Jahren? «Wissen Sie, das Sprüngli ist mein Zuhause», sagt sie und lächelt erstmals.
Nicht nur die Gäste, auch der Raum selbst spricht von Tradition. Die zeitlosen Tische, umgeben von den schweren Stühlen, die sich kaum verrücken lassen, wenn man aufstehen will. Sogar das Mobiliar scheint seinen angestammten Platz nicht verlassen zu wollen.
Die goldenen Kronleuchter, die über der Decke hängen, das eingravierte Silbertablett, auf dem der Kaffee serviert wird – als sei es schon immer so gewesen: «Schön traditionell», hört man die einen sagen. «Etwas altbacken», entgegnet der Tisch nebenan. «Sie haben wahrscheinlich auch nicht den besten Kaffee der Stadt, aber sie wissen, wie wir ihn mögen.» Eine Schale. Dunkel. Milch separat. Die beiden gut gekleideten Herren besuchen das Sprüngli schon seit über 30 Jahren regelmässig. Und während Markus Zimmermann noch von den legendären Truffes du Jour schwärmt, fliessen die einzelnen Stimmen wieder ineinander. Die Gespräche rauschen wie Wellen vor sich hin und vor dem geschlossenen Fenster sieht man das Dach des vorbeifahrenden Trams, das vorsichtig um die Kurve zum Paradeplatz einfährt. Doch etwas Zeit bleibt noch – das nächste Tram kommt bestimmt bald.