So sieht es also aus das Paradies von Elias Canetti: Türme in Vielzahl recken sich, vor allem Kirchentürme schlanke, spitzige, rundkopfige über dem Fluss und lenken das Auge weiter zum See, der mal blau, mal wintergrau, mal ganz im Nebel verschwunden den Blick festhakt an der Alpenkette hoch darüber und weiterwandert zu den Hügelketten, sanften, rechts und links, die der Stadt Länge verschaffen, ein Ausrecken von den Strassen mit den quietschenden blau-weissen Strassenbahnen vorbei am malerischen Häusergewirr beidseits vom Fluss und mit steilen Zahnradbahnen hinauf zu manchem verschwiegenen oder übersonnten Wegelein im Wald bis hin zu schattenreichen Ruhestätten der von der Welt gestrandeten Berühmtheiten mit Namen, die sich lesen wie die Buchrücken aus einer erlesenen Bibliothek, wohin auch er heimkehrte, der lang Gewanderte, weil er Heimat fand, wo er Heimat finden wollte in Turicum, Turitg, Zurigo oder einfach: Züri.
Eine kleine Spurensuche führt uns zu Orten und Menschen in dieser Stadt, denen der eigenwillige Literat und Nobelpreisträger Elias Canetti tiefinnerst verbunden war und die einen Blick öffnet hinter seine wirkliche oder eben nur scheinbare Unnahbarkeit. Folgen wir also dem Autoren Marino Ferri in Canettis Paradies.
Unter all den Zürich verbundenen Literaten ist Elias Canetti (1905-1994) nicht nur einer der berühmtesten, sondern wohl auch der, der seiner Wahlheimat die grösste Liebe und Dankbarkeit entgegenbrachte. In Canettis langem Leben gab es zwei Zürcher Phasen: eine frühe, 1916 bis 1921, und eine späte, 1971 bis 1994. Beide waren von grosser Bedeutung für Biographie und Werk des Nobelpreisträgers. Geboren 1905 im bulgarischen Rustschuk als Sohn einer spanisch-jüdischen Familie, emigrierte Canetti schon im frühen Kindesalter: 1911 zieht die Familie nach Manchester, ein Jahr darauf verstirbt überraschend der Vater – “Dieses Erlebnis hat mich gemacht.”, wird er viel später sagen: Es hat ihn zu seiner intensiven Auseinandersetzung mit der Sinnlosigkeit des Todes gebracht. Die Mutter zieht mit Elias und seinen beiden Brüdern zunächst nach Wien. Auf dem Weg dahin gelangt Elias 1913 zum ersten Mal nach Zürich. Mit der Mutter steigt er hoch auf den Rigiblick, einen beliebten Aussichtspunkt, und sieht hinab auf das Häusermeer. Eine Erfahrung, die er in seinen Jugenderinnerungen “Die gerettete Zunge” (1977), würdigt: “Die Erinnerung an diesen ersten Blick auf Zürich, das später zum Paradies meiner Jugend werden sollte, hat mich nie verlassen.”
1916 beziehen die Canettis eine Wohnung an der Scheuchzerstrasse 73. Das Paradies beginnt, “die einzig vollkommen glücklichen Jahre”, denen in “Die gerettete Zunge” gute 190 Seiten gewidmet sind. Nach einem erzwungenen Jahr an der Primarschule Oberstrass, erfolgt der Übertritt ans Realgymnasium Rämibühl, der Institution, die zum Zentrum seines unersättlichen, lebenslangen Bildungshungers wird. Hier verfasst Canetti, um die Gunst seiner Mutter, die in das Werk von Strindberg vernarrt ist, zu gewinnen, sein erstes Werk: ein in Blankversen verfasstes Drama mit dem Titel “Junius Brutus”. In der Nachbarschaft an der Scheuchzerstrasse lebt unter anderem auch der italienische Pianist und Dirigent Ferruccio Busoni, der mit seinem Bernhardinerhund Giotto auf den jungen Canetti einen nachhaltigen Eindruck macht. 1920 verlassen Mutter und Brüder die Stadt, Elias Canetti bleibt, um das Gymnasium beenden zu können, in Zürich: Er zieht seeabwärts in die Mädchenpension Villa Yalta beim Hafen Tiefenbrunnen am äussersten Rand der Stadt. Nach Zürich lebte der staatenlose Canetti in Frankfurt am Main (1921-24) und in Wien (1924-38), ehe er nach London floh, wo er die kommenden dreissig Jahre verbrachte. 1963 verstirbt seine Frau Veza. Zu ihren Lebzeiten hatte Elias Canetti bereits diverse – von Veza tolerierte, bisweilen gar “installierte” – Verhältnisse zu anderen Frauen. Eine davon war die am Zürcher Kunsthaus arbeitende Restauratorin Hera Buschor, deretwegen Canetti nach Zürich zurückkehrt. 1971 heiraten sie und beziehen eine gemeinsame Wohnung an der Klosbachstrasse 88, bezeichnenderweise im sogenannten “englischen Viertel” Zürichs.
Unscheinbar ist das Haus, unscheinbar die Dreizimmer-Wohnung, die er hier im dritten Stock mit Hera und der gemeinsamen, 1972 geborenen Tochter Johanna bewohnte. Die Hausbesitzer waren der polnische Tenor Jan Kiepura (bereits 1966 verstorben) und seine Frau Marthe Eggerth (1912-2013), eine prominente Operettensängerin und Filmschauspielerin, die zwar mehrheitlich in New York lebte, aber an der Klosbachstrasse noch eine Wohnung besass. Selbst einst Flüchtlinge aus dem Osten, vermietete das Ehepaar häufig Wohnungen an ungarische und jüdische Emigranten. Für Canetti gehörten diese Jahre in Zürich zu seinen produktivsten. Er publizierte die drei Bände seiner Lebenserinnerungen, die Charakterstudie “Der Ohrzeuge” (1974) und die Essaysammlung “Das Gewissen der Worte” (1975). 1972 wurde er mit dem Büchnerpreis, 1981 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. An den Stadtpräsidenten Thomas Wagner schrieb er am 16.8.1988 einen berührenden Brief, in dem es heisst: “Es ist ein sehr tiefer Wunsch von mir, meine Tage in dieser Stadt zu beschliessen, die ich seit der Kindheit liebe. (…) was überall sonst kaum mehr möglich wäre, – hier mag es gelingen.” Leider gelang doch nicht alles: zum zweiten Band der Studie “Masse und Macht” und zum lange geplanten Buch gegen den Tod, das jedoch posthum erschien, reichte es nicht mehr.
Obschon sich Elias Canetti kaum am kulturellen Leben Zürichs beteiligte, war er ein bekannter Mann, dem der Ruf als verschrobener Kauz vorauseilte, was durch seine kleine, rundliche Erscheinung, den wilden weissen Haarschopf und den buschigen Schnauz noch begünstigt wurde. Manchen Zeitgenossen mag er mit Schroffheit verärgert, manch Fan mit seinem forschen Beharren auf das Recht zur Privatsphäre vor den Kopf gestossen haben. Eine “Fanfare der Unerreichbarkeit” (Isolde Schaad) umgab ihn, wenn er in den Ecken der Kaffeehäuser der Stadt sass. Wer aber das Vergnügen hatte, Elias Canetti näher kennenzulernen, begegnete zuweilen einem der “sprühendsten und liebenswertesten Menschen (…), der einen umwerfenden Charme, eine Komik besass” (Susanna Hochwälder). Der Stadt Zürich blieb er über seinen Tod hinaus dankbar, indem er seinen Nachlass und die 15’000 Bände umfassende Privatbibliothek der Zürcher Zentralbibliothek vermachte – trotz Vorverträgen mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach. Nach dem Tod seiner zweiten Frau Hera 1988 hatte Canetti die Wohnung in London, die er überwiegend noch als Bücherlager besass, aufgegeben und die Bände, verpackt in unzählige Kisten, beim Schweizer Transportunternehmen Welti-Furrer eingelagert. Das Angebot der Zentralbibliothek, diese Bestände sogleich zu übernehmen sowie die Zusicherung der Sperrfristen, die Canetti für seine Manuskripte verlangte, trugen maßgeblich zur Umstimmung bei. Die Stadt ihrerseits sicherte Canetti schon zu Lebzeiten ein Ehrengrab auf dem Friedhof Fluntern zu – an der Seite von James Joyce.
Erinnerungen von Leuten, die in den Zürcher Jahren 1971 bis 1994 mit Canetti – niemand durfte ihn Elias nennen – zu tun hatten, hat Werner Morlang 2005 im Band „Canetti in Zürich“ versammelt. Dass dieses Buch und weitere, wie etwa die umfassende Canetti-Biographie von Sven Hanuschek, erst elf Jahre nach dem Tod des Autors erscheinen, liegt an jenen Sperrfristen, die den Zugang zu unveröffentlichtem Material verzögerten. Manche Aufzeichnungen Canettis werden gar erst im Jahr 2024 für die Forschung zugänglich sein. Auch posthum schreibt Canetti die Privatsphäre gross.
Canettis Ruf als kauziger Sonderling und bibliophiler Pedant, dessen militärisch arrangierte Bleistiftreihen anekdotisch-legendären Status besitzen, ist auch durch die liebevollen Erzählungen von Zeitgenossen, wie Morlang sie gesammelt hat, nicht vollständig auszuradieren. Neben unzähligen Texten gibt es jedoch ein kraftvolles Bilddokument, das beweist, dass Elias Canetti nicht immer und nicht zu jedem der eigenbrötlerische Büchernarr war, den manche ihm andichteten: 1969 sitzt Canetti mit Freunden im verrauchten Zürcher Bahnhofbuffet und diskutiert die Aufführung eines seiner Theaterstücke mit dessen designiertem Regisseur. Leute vom Nebentisch mischen sich ein, stellen eine Frage – und Canetti antwortet in geradezu verblüffend akzentfreiem Zürcher Dialekt: “Er isch dä Reschissör, ich bi dä Dichter.” (Er ist der Regisseur, ich bin der Dichter). Dankbarkeit und Liebe äussern sich auch in diesem Akt der Assimilation bis auf die Ebene des Dialekts – eine Anstrengung, die man wahrlich keinem Wahlzürcher abverlangen würde. Doch Canetti hat sie unternommen: der Dichter machte sich Zürich auch sprachlich zur Heimat.
Eine Annäherung an Werk und Leben von Canetti ermöglicht das von Werner Morlang herausgegebene Buch: „Canetti in Zürich – Erinnerungen und Gespräche“, Verlag Nagel & Kimche