Die Verwandlungskünstlerin

Optiker Zwicker unterhält seit mehr als 30 Jahren als Brillenausstatter eine enge Beziehung zum Zürcher Schauspielhaus. In dieser Jubiläumsschrift «175 Jahre Optiker Zwicker» soll die gute Zusammenarbeit symbolisch auf die Bühne gebracht werden: in einem ausführlichen Interview mit Alicia Aumüller. Im März 2023 erhielt die Schauspielerin gemeinsam mit ihrer Bühnenpartnerin Patrycia Ziólkowska den Gertrud-Eysoldt-Ring für ihre Rolle in «Ödipus Tyrann». Dieser Preis ist eine der bedeutendsten Auszeichnungen für eine herausragende schauspielerische Leistung im deutschsprachigen Raum. Ein Gespräch mit einer einzigartigen Schauspielerin, die es schafft, einer unscheinbaren Konformistin Lebensmut und Durchsetzungsvermögen einzuhauchen. Vorhang auf!

Alicia Aumüller, was mich bei der Premiere von «Das Leben des Galilei» überraschte: Da war kein aus dem Heute entlehnter Text herauszuhören. Aber dafür eine Virginia, dank der der Zuschauer Zeuge einer Art Metamorphose wurde. Wilhelm Buschs «Fromme Helene» entpuppte sich als Jeanne d’Arc. Diesen Wandel von der netten Mitläuferin bis hin zu einer klugen, emanzipierten und kämpferischen Frau haben Sie stark herausgearbeitet. War es Ihre Intuition, diese Figur so zu interpretieren oder die Handschrift des Intendanten Nicolas Stemann? 

Nicolas Stemann interessiert sich meistens erst mal sehr dafür, mit dem vorhandenen Material eines Stückes umzugehen, sich zu fragen, wie belastbar der Originaltext ist. Fremdtexte kommen erst dann hinzu, wenn es ihm als Mittel der Erzählung sinnvoll erscheint. Das gilt übrigens auch für unsere Arbeit mit «Ödipus Tyrann». Auch hier spielen wir den ganzen Text von Sophokles fast unverändert und haben nur an manchen Stellen kleine Textkommentare hinzugefügt, die eine weitere Perspektive auf das Stück ermöglichen sollen. Allerdings muss ich sagen, war für mich bei «Leben des Galilei» recht schnell klar, so wie Brecht in diesem Stück die Frauenfiguren schreibt und zu Wort kommen lässt, kann und will ich das heute als Frau nicht mehr verkörpern.
 
Was waren Ihre ersten Gedanken, nachdem Ihnen die Rolle der Virginia gegeben wurde?

Als ich das Stück zum ersten Mal las, war ich zuerst schockiert und gleichermassen irritiert. Ich kannte das Stück vorher nicht. Wohl aber Brecht, der in seinen Stücken doch immer wieder starke Frauen auftreten lässt. 

Also ein atypischer Brecht?

Auf eine Weise, ja. Er schreibt hier ein Stück, in dem fast ausschliesslich Männer zu Worte kommen. Männer, die sich und anderen die Welt erklären, in starken Worten und Themen. Die beiden Frauenfiguren beschreibt Brecht in einem Frauenbild, das so schon lange passé ist und eine Reproduktion davon daher, meiner Meinung nach, sehr schmerzhaft und fragwürdig ist. Die eine als mütterlich denkende und fürsorglich handelnde Haushälterin, die sich aufopfernd um das leibliche und seelische Wohl der Männer kümmert, die andere als eine Ja-und-Amen-sagende Tochter, über die schon gleich zu Stückbeginn gesagt wird: «Sie ist nicht intelligent und braucht wirklich bald eine Aussteuer.» 

Wie fanden Sie für sich eine Neuformulierung für die Darstellung der Tochter? Ausgehend von der Erkenntnis, eine Figur verkörpern zu müssen, die, salopp formuliert, in den Anfängen des Stücks kaum existent war …

Es war ein sehr aufreibender Prozess für mich. Gerade weil sich der Text an historische Begebenheiten anlehnt, bei denen es um Wissen, Wahrheit und Macht geht – also genau die Bereiche, von denen Frauen in den letzten 2000 Jahren vorwiegend ausgeschlossen waren –, war es mir ein grosses Anliegen, über diese Ungleichheit und den damit verbundenen Schmerz zu erzählen.

Wahrscheinlich nicht ganz einfach für eine, so scheint es mir, sehr selbstbestimmte Frau wie Sie …

Ich wollte mich als eine Art «Patin» dieser Figur annehmen, ohne dabei nur das wiederzugeben, was auf dem Textblatt steht. Keinesfalls wollte ich das innere Vorstellungsbild einer leidenden Frau nach aussen kehren. Diese um Mitleid bettelnde Attitüde kennen wir doch zur Genüge. Wie macht man das Verstummen und Verschwinden einer Figur sichtbar, ohne selbst dabei auf der Bühne stumm zu sein und im Stück zu verschwinden?

Quintessenz?

In den Arbeiten von Nicolas Stemann verwenden wir häufig das Mittel, Texte von Figuren unter den Schauspielerinnen und Schauspielern zu wechseln, chorisch zu sprechen oder ganze Szenen monologisch zu spielen. Das eröffnet die Möglichkeit, einerseits texttreu durch das Stück zu gehen, andererseits ganz neue Lesarten von Figuren und Stück zu haben. Zusätzlich zu den Texten von Virginia spreche ich auch Texte von anderen Figuren des Stückes, zum Beispiel Textpassagen von Galilei, vom Inquisitor oder von Andrea Sarti, also von Figuren, die andere Positionen im Stück einnehmen und andere Themen verhandeln, als es die Figur Virginia tut und kann. Dadurch entsteht eine «neue» Virginia, die nicht nur stumm duldet und sich fügt, sondern eine vielschichtige Figur ist, die keineswegs nur als Opfer der Geschichte zu lesen ist.

«Leben des Galilei» war ein absoluter Gegenpol zu «Ödipus Tyrann», den Nicolas Stemann im letzten Herbst mit Ihnen und Patrycia Ziólkowska mit grossem Erfolg auf die Bühne brachte. Die Galilei-Inszenierung ist weder modern noch übermässig frei, aber dafür eine wunderbar leichtfüssig hingeworfene Kaskade von Worten und Satzgebilden. Wie haben Sie den Spagat geschafft zwischen der Figur Virginia, Tochter des Galilei, und den verschiedenen anderen Charakteren, die sie in «Ödipus Tyrann» verkörpern?

Jede Arbeit steht für sich und hat ihren ganz eigenen Kosmos. Bei Ödipus begeistert mich, mit welcher Ambivalenz Sophokles seine Figuren zeichnet. Alle Charaktere im Stück haben ihre ganz eigenen Abgründe und Untiefen und ihre spezifischen Mechanismen, mit Lüge und Wahrheit umzugehen. Vielleicht kommt mir im «Ödipus Tyrann» diese Ambivalenz der Figuren sehr entgegen …

Wie ist das zu verstehen?

Da habe ich eine einfache Formel, abgeschaut in Robert Musils «Mann ohne Eigenschaften» von der Hauptfigur Ulrich. Ich zitiere sinngemäss: «In diesem wenig glücklichen Augenblick, in dem sich die sonderbare kleine Gefühlswelle, die ihn für eine Sekunde erfasst hatte, wieder auflöste, wäre er bereit gewesen, zuzugeben, dass er nichts besitze als eine Fähigkeit, an jeder Sache zwei Seiten zu entdecken, jene moralische Ambivalenz, wie wir sie alle kennen.» Es macht mir in «Ödipus Tyrann» enorm viel Spass, diesem Seelenkrimi auf die Spur zu gehen. Brecht skizziert Galilei nicht als tragischen Helden ohne Gesicht, er zeichnet ein sehr menschliches Porträt von ihm. Galilei ist voller Widersprüche, er zeigt ungeschminkt viele Schwächen. Er bekennt immer wieder, dass ihm sein leibliches Wohl genauso wichtig ist wie seine Forschung. Im Gegensatz dazu erscheint seine Tochter Virginia viel lustvoller, auch aufgrund Ihrer Interpretation.

Alicia Aumüller, sind Sie ein Genussmensch? 

Sehr. Doch Genuss ist für mich auch eine Frage der Fantasie. Das Theater bietet mir viel Raum, genussvoll zu sinnieren, zu schreien, zu weinen, zu zweifeln. Einfach Grenzen zu sprengen und eintreten zu können in unbekannte Welten. Der Fantasie sind auf der Bühne keine Grenzen gesetzt. Fast keine jedenfalls.

Im Fortlauf der Ereignisse stellt Galilei fest, in einer Zeit zu leben, die für seine
Entdeckung noch nicht reif ist. Aber die Zeit ist ja nie reif für Dinge, die ausbrechen aus
den Ruinen der Gewohnheiten. Die aktuellen kritischen Einflussfaktoren, die den Prozess hemmen, endlich erwachsen zu werden, haben andere Namen: Corona, Ukraine, Klimakrise, künstliche Intelligenz und eine Weltpolitik, die tief in die Sackgasse geraten ist. Wie erleben Sie unsere Zeit?

Ich erlebe sie als eine Zeit, in der man hin und wieder komplett ratlos dasteht. Wir sind umgeben von einer Hyperüberforderung mit dem Krieg in der Ukraine, der rasenden Geschwindigkeit der Kommunikationsvehikel, der Klimakatastrophe, den grossen Migrationsbewegungen … Ich erlebe, dass diese enorme Überforderung manchmal dazu führen kann, gesellschaftliche Diskurse zu vereinfachen, in ein Schwarz-Weiss-Malen zu verfallen, und dass wir dadurch unsere Fähigkeit, mit Ambivalenzen umgehen zu können und zu müssen, mehr und mehr einbüssen. Das macht mir Angst. In meinem Leben dreht sich aktuell viel um meinen 13-jährigen Sohn. Ihn möchte ich darauf vorbereiten, welche Möglichkeiten er hat, um sich auf eine sinnstiftende Zukunft ausrichten zu können.

Welchem Ich sind Sie durch Virginia wiederbegegnet?

Es hat mich hin und wieder an meine Schulzeit erinnert. An ein Schulsystem, das noch keineswegs frei war von gewissen patriarchalischen Verhaltensweisen. Es schmerzte mich zu hören, ich sei dumm. Erst in der Ausbildung zur Schauspielerin wurden meine Gedanken und mein Wissen respektvoll wahrgenommen.
Diese Erinnerung an eine gnadenlose Simplifizierung von Dummsein ist bei mir wieder hochgekommen. Sie macht mich wütend, weil man als junger Mensch, gerade auch als Frau, in der heutigen Leistungsgesellschaft schnell den Stempel aufgedrückt bekommt, naiv und unwissend zu sein.

Für Ihre schauspielerischen Leistungen in der Inszenierung von Yana Ross «Mein Jahr der
Ruhe und Entspannung» sind Sie mit der «Goldenen Maske» ausgezeichnet worden. Im März 2023 erhielten Sie den Gertrud-Eysoldt-Ring. Welche Bedeutung haben diese Auszeichnungen für Sie?

Auch wenn das ein bisschen kokettierend klingt: Nach dem Preis ist vor dem Preis, stehen wir doch in der Welt des Theaters auf dünnem Eis. Die Ehrung bedeutet gleichzeitig alles und nichts. Da wirst du eben noch auf den Olymp gehisst, bekommst einen der wertvollsten Preise, die es im Theater zu gewinnen gibt, um im nächsten Augenblick den Verriss einer von dir gespielten Figur zu erleben. Der Grat zwischen Erfolg und Misserfolg ist ein schmaler. Aber klar, ich bin stolz darauf, in dieser Form für meine schauspielerische Leistung geehrt zu werden. Ohne falsche Bescheidenheit.

Intendant Nicolas Stemann wird das Schauspielhaus Ende Saison 23/24 verlassen. Dem klassischen Besucher des Zürcher Schauspielhauses waren seine Inszenierungen zu modern, zu avantgardistisch, zu provokativ, zu freigeistig. Nun wird er Zürich verlassen. Unwiderruflich. Werden Sie ihm folgen …?

Noch weiss niemand, wohin es ihn ziehen wird. Aber ich hoffe sehr, dass wir auf der Arbeitsebene eng miteinander verbunden bleiben. Es waren und sind für mich sehr wertvolle und fruchtbare gemeinsame Jahre hier am Schauspielhaus und ich wünsche mir, dass wir darauf aufbauen können.

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