Götte Optik

Wir haben Iria Degen, Interior Designerin, und Anna Maier, Kunstschaffende und Moderatorin, zu einem Gespräch getroffen, bei dem es um allgemein gültige Werte im Alltag und nicht um ultimative Fragen ans Weltgeschehen ging. Es ging darum, Sinn und Unsinn, Sehnsüchte und Zweifel, Zuversicht und Ratlosigkeit gedanklich zu umkreisen. Ohne dabei abstrakt-moralische Wegweiser aufzustellen.

Gut, darf in einer Zeit, in der Gesellschaft, Wirtschaft und Politik arg durchgerüttelt werden, jeder Mensch sein eigener Komponist bleiben. Er kann aus seinem Lebensstoff eine fesselnde Komposition arrangieren. Von Adagio bis Fortissimo. Allerdings ist die Zuversicht dafür ein wenig verloren gegangen. Es sind mitunter auch die vielerorts kursierenden Schlechtwetterprognosen für die Zukunft, die uns und besonders junge Menschen immer wieder irritiert zurücklassen. Auf Spurensuche nach einem Blick in eine sinnstiftende Zukunft sind wir auf den Soziologen Hartmut Rosa gestossen, der von «Resonanz» spricht, wenn er sich daran macht, uns und die Jeunesse versöhnlich mit der Zukunft ins Gespräch zu bringen. Er beschreibt das Gefühl der Verbindung zu einem grösseren Ganzen, seine Erfahrung dazu: «Ich bin nicht allein und isoliert. Ich habe eine Beziehung zur Welt.» Rosa spricht vom Widerhall der Welt. «Das kann man in der Religion erfahren, aber auch in der Musik, der Kunst oder der Literatur zum Beispiel. Meine Mutter erlebte Resonanz bei der Gartenarbeit. Viele erleben sie auch in der Natur.»

Vielleicht ist die Zeit reif, die Sichtweise auf unser Leben zu schärfen und auf den «Widerhall» zu hören. Auf dem Weg, einen Essay zu verfassen, der moralfrei Gedanken von jungen, aber auch älteren Menschen mit einschliesst, haben wir in Götte Optik eine feine Begleiterin gefunden. Wir bedanken uns für ihre Unterstützung ganz herzhaft. Götte Optik hat eines unmissverständlich kapiert: «Fokussieren wir nicht all unsere Energie auf das Hadern und Bekämpfen des Alten, sondern auf das Schaffen des Neuen.» Frei nach Sokrates.

An was glauben Sie, Iria Degen?
Ich glaube an das Gute. Unsere Zeit ist nicht so schlecht, wie sie gerne dargestellt wird. Wenn es uns gelingt, tragende Familien- und Freundschaftsbeziehungen aufzubauen und auf eine übergeordnete Gerechtigkeit zu vertrauen, kann aus Gutem etwas Wertvolles entstehen.

Anna Maier, was ist Schönheit?
Schönheit ist nicht das, was man auf den berühmten ersten Blick wahrnimmt. Man kann sie besser fühlen als sehen. Mich ziehen sowieso eher Menschen an, die beinahe unbeachtet durchs Leben gehen, selbst wenn sie viele interessante, unaustauschbare Geschichten zu erzählen haben. Eigentlich ist es wie bei meiner Malerei: Sie ist vielschichtig und bleibt nicht in der Oberflächenästhetik stecken. Ich selbst suche für mich den Tiefgang. Mir widerstrebt das Schickimicki-Getue, die triviale Geselligkeit. Schönheit liegt auch in allen archaischen Erscheinungsformen der Natur.

Sie waren bereits mit 19 beim Fernsehen. Fast 27 Jahre lang war Ihr Gesicht teilweise täglich auf dem Bildschirm zu sehen. Was hat das Massenmedium aus Ihnen gemacht?
Ich oute mich als hochsensible, introvertierte Frau. Dies vielleicht im Gegensatz zur landläufigen Vorstellung, die man von einer Person hat, welche in der breiten Öffentlichkeit steht. Ich bin eine Zurückgezogene, die dem überstrapazierten gesellschaftlichen Hang zur Heiterkeit den Rücken zuwendet. Das menschlich Wichtigste ist mir meine Familie. Sie ist Unterschlupf für meine Seele. Beim Fernsehen war ich der Volksstimme ausgesetzt. Ich fand aber für meine nach Ruhe suchende Persönlichkeit immer einen Ausweg, verbrachte lieber Zeit im Halbschatten statt im Scheinwerferlicht. Da half mir mitunter ein langes Sabbatical auf einer spanischen Insel. Ich fragte mich: Was will ich und wie komme ich dahin? Ein langer Prozess, der wohl auch nie abgeschlossen ist. Einer, bei dem ich fern aller Bekanntheit meinem Alter Ego unbeschwert begegnete – befreit von Regeln und Konventionen der Gesellschaft.

Anna Maier, man kann hinschauen, wo man will. Die Welt ist in vielen Aspekten des Lebens in Schieflage geraten. Der Frieden ist gefährdet und damit auch unsere Freiheit. Die Sprache ist am Verkümmern. Was soll das mit den unzähligen Kürzeln wie LOL, AMA, GLG et cetera? Täglich wird eine Vielzahl neuer Ich-Gesellschaften gegründet. Angesagt ist Opportunismus total. Wie gelingt es Ihnen, von diesen Zeiterscheinungen sicheren Abstand zu nehmen, damit Sie nicht gnadenlos verschlungen werden?
Ja, die Welt, sie ist verrückt. Da sind unsägliche negative Energien da, denen man sich nicht so leicht entzieht. Ich habe im Tessin einen Rückzugsort, besser: einen Kraftort. Der nimmt mich jeweils in den Arm und flüstert mir zu: «Lass die Welt doch einfach auf dich warten.» Ich befolge seinen Rat. Und kümmere mich um meine fünfköpfige Patchwork-Familie. Das ist wie Balsam für Geist und Seele.

Die Familie ist Ihnen heilig. Das spürt man in allem, was Sie sagen.
Sehr sogar. Meine Mutter starb, als ich dreijährig war. Ich kenne also die umgarnende Güte und Mutterliebe nicht. Mein Vater war ein Strenger, geprägt durch die eigene Kindheit. Er wurde vor dem Zweiten Weltkrieg geboren. So habe ich nicht wirklich ein idyllisches Souvenir von «Familie» mitbekommen. Vielleicht auch wegen dieser ungestillten Sehnsucht bin ich selbst früh Mutter geworden: Ich war 24, als meine erste Tochter zur Welt kam. Mit ihr habe ich die Bedeutung einer Familie erfahren. Sie gibt mir Kraft und Stabilität.

Iria Degen, Sie haben Carte Blanche: In welchem Jahrhundert würden Sie gerne gelebt haben?
Im Hier und Jetzt. Es ist spannend, den Lauf der aktuellen Dinge zu beobachten, daran teilzunehmen und sich, wo immer möglich, positiv zu engagieren. Jeden Tag liegen – beruflich wie privat – neue, anspruchsvolle Themen auf dem Tisch, die mich inspirieren und gleichermassen herausfordern, eine Lösung zu finden. Lösungen, die nicht im Mainstream oder in der Belanglosigkeit versinken. Ideen, die im Team oder in der Familie erarbeitet werden, verbunden mit viel Respekt und Achtsamkeit für alle, die an der gestellten Aufgabe teilhaben.

Und Sie, Anna Maier?
Nicht in einer Zukunft, in der die KI unser Leben übernimmt. Ich sehne mich immer wieder mal nach einem «analogen» Zeitalter, wo man noch nicht ständig und überall mit optischen und akustischen Reizen torpediert wird. Unser Handy ist Schlüssel zur Welt, wir erfahren in Echtzeit, was wo passiert, sind gefühlt mittendrin im Geschehen. Vielleicht ist dieser Umstand allein schon eine Überreizung. Ich bin dafür, dass über Grenzen des Möglichen diskutiert wird. Nicht alles, was möglich ist, ist auch gesund.

Iria Degen, gibt es für Sie eine ultimative Frage, auf die Sie schon lange nach einer Antwort suchen?
Nein, nicht wirklich. Sonst wäre ich jetzt wahrscheinlich auf dem Jakobsweg. Auch wenn ich viel reflektiere über mein Tun und Nichttun, hat sich bei mir keine Frage eingenistet, die verzweifelt nach einer Antwort sucht. Ich bin eher der Typ, der manchmal von einer Antwort rückwärts in die Frage formuliert. Eine Antwort wäre zum Beispiel «Danke».

Welche Erfahrungen möchten Sie nicht mehr machen?
Schwierige Erfahrungen oder Lebensphasen wie die Trennung und Scheidung von meinem Partner. Das kostete mich die halbe Lebensenergie. Ich habe viel von meiner weisen Mutter gelernt: «Was dich nicht umbringt, macht dich stärker.» Klar und deutlich, oder? Ich glaube, dass ich ohne falsche Bescheidenheit sagen kann, heute, dank meinen positiven, aber vor allem auch negativen Erfahrungen, eine gute Freundin zu sein. Im Wissen, wo der andere steht, empathisch nachzuempfinden, wie es ihm geht. Das lasse ich einfliessen in die Begegnungen mit Menschen, die mir nahestehen.

So, dann machen wir doch die Probe aufs Exempel. Ihr seid miteinander befreundet. Also: Was denken Sie, würde Anna Maier antworten, falls man sie fragt, wo Iria Degen an ihre Grenzen stösst. Und umgekehrt.
Iria Degen: Anna würde sagen, die Erziehung und die ewig aktuelle Frage nach dem, ob man es mit Kindern auch wirklich gut macht, damit sie zu wertvollen Menschen heranwachsen können.
Anna Maier: Iria würde wohl meinen, dass mein Drang, das Leben mit all seinen Facetten auszukosten, mich dazu verführt, alles sofort umzusetzen. Wenn ich mir hie und da zu viel aufbürde, mich vom Reiz der Möglichkeiten verführen lasse.

Das lassen wir so stehen. Mit Rückblick auf Ihre Biografie, Anna Maier, was war für Sie von prägender Bedeutung?
Das Mutterwerden. Dem ist auf einer Flugreise in Südamerika eine Begegnung mit einem kleinen Mädchen vorausgegangen. Ich war damals knapp zwanzig. «Warum bist du alleine?» fragte es mich. Diese einfache Frage rüttelte an meinen Grundfesten. Ich weinte bitterlich, weil ich in dem besagten Moment nicht nur alleine war, sondern mich auch alleine fühlte. Mit diesem Erlebnis entstand der Wunsch, Teil einer Familie zu sein, die füreinander da ist und füreinander einsteht.

Welche Superkraft möchten Sie haben?
Iria Degen: Ich möchte die Kraft haben, nie müde zu werden. Mein Tag hat nämlich viel zu wenig Stunden. Ich möchte nie zu erschöpft sein, um stets neugierig voranzugehen. Ich möchte da bleiben, wo ich gerade bin: genüsslich auf der Überholspur.
Anna Maier: Oft ertappe ich mich dabei, vorauszuahnen, wenn es meinen Kindern nicht so gut geht. Das bekümmert mich, lässt mich auch manchmal ein wenig ratlos zurück. Darum, liebe Superkraft, schenk mir ein Instrumentarium, um meinen Kindern in allen Lebenslagen mit den richtigen Worten und Taten beistehen zu können.

Wenn Ihnen jetzt Ihr 20 Jahre jüngeres Ego ein Kompliment machen würde. Eines, das besagt, was Sie ganz toll gemacht haben. Wie hörte sich das an?
Iria Degen: Etwa so: «Gut, bist du dir immer selbst treu geblieben. Hast ob deinem Erfolg nie die Bodenhaftung verloren. Mir gefällt auch deine authentisch gelebte Bescheidenheit und dein hoher Anspruch gegenüber der unabdingbaren Qualität, die deine Arbeit auszeichnet.»
Anna Maier: Es würde mich dafür loben, das Leben gelebt zu haben. Es findet auch gut, wie ich mich ohne Zaudern und Klagen den Hürden gestellt habe, die da und dort meinen Weg verbarrikadierten. Es wird auch meinen mutigen Schritt hervorheben, wie ich einen sicheren Traumjob aufgegeben habe, um für mich – weit weg vom Alltag und in der Stille – herauszufinden, wie ich meine Familie und meine Freude am Beruf besser ausbalancieren kann. Mein Alter Ego wird mir wohl noch einen weisen Gedanken auf meine Lebensroute mitgegeben haben. In diesem Sinn
etwa: «Es sind nicht die äusseren Umstände, die das Leben verändern, sondern die inneren Veränderungen, die sich in deinem Leben äussern.»

Was für ein kluges Alter Ego. Das können wir so stehen lassen. Ohne Alter(ego)native.

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