Man hört und liest ja immer wieder, dass die Corona-Krise auch eine Chance sei, dass „wir Menschen“ durch diese elende Plage lernten, was Solidarität bedeute, Hilfsbereitschaft, Nächstenliebe; und dass wir diese nun wiederentdeckten Tugenden auch nach der Krise weiterleben würden, sie fortbestünden. Ich habe da allerdings so meine Zweifel.
Meine Zweifel an einer grossen gesellschaftlichen Veränderung fussen vor allem auf bestimmten Erfahrungen. Ich kenne zwar nicht die Menschheit als Gesamtes, einen von ihr aber ziemlich genau: mich selbst.
Vor Jahren praktizierte ich jeweils zur Frühlingszeit eine Form der Selbstkasteiung namens Fasten; genauer gesagt, war es eine Minikaloriendiät namens Sambu Hollundersaftkur von Dr. Dünner. Nach diesen Kuren und zehn Tagen Food Distancing war man nicht nur so, wie der Kur-Doktor heisst, sondern auch ein bisschen heiliger, also bewusster, sagen wir: etwa achtmal achtsamer als man zuvor gewesen war. Man sagte dann, ein mildes Lächeln im Gesicht, während man eine erste Bouillon ohne Salz löffelte: „Nie mehr Zucker! Nie mehr Alkohol! Nie mehr Doppelcheeseburger mit Extraspeck und –käse!“ Denn: Man war ein neuer, ein besserer Mensch geworden.
Aber wie lange dauerte es jeweils, bis man wieder in einen Hamburger biss und der Fettsaft einem auf das T-Shirt troff, man sich das Weinglas vollgoss, bis man das schöne physikalische Phänomen der Oberflächenspannung beobachten durfte? Ein paar Tage – dann war man wieder der, der man zuvor gewesen war. Und zwar in jeglicher Hinsicht, inklusive bezüglich der Fakten im Zwiegespräch mit der Digitalwaage im Badezimmer.
Ich würde gerne glauben, dass wir verwandelt aus dieser Krise kommen, so wie ein Auto strahlend und glänzend nach einer Saharastaub-Woche aus einer Waschstrasse. Der Mensch hat eine Sehnsucht nach Veränderung, aber hat er auch den Willen dazu, die Kraft? Oder ist diese Sehnsucht nichts weiter als eine Verblendung, eine romantische Vorstellung, eine Kitschroman-Veredelung seiner selbst? Denn ist der Mensch nicht vor allem eines: Ein Gewohnheitstier, welches sich selbst nicht entrinnen kann?
Obendrein stelle ich eine Abflachung der Erotik der Krise fest: Anfangs zogen wir wie eine mit Heugabeln und Teppichklopfern bewehrte Laienarmee in den unsichtbaren Kampf gegen dieses Virus und seine gesellschaftlichen Folgen. Nun aber diagnostiziere ich eine gewisse Erschöpfung. Wir sind versehrt von HomeSchooling und HomeOffice, von überhaupt allem, was mit Home zu tun hat. Wir sehnen uns nicht nach einem Leben als bessere Menschen – die alte Version von uns selbst genügte uns mehr als genug.
Hoffentlich werde ich enttäuscht! Aber ich befürchte, es wird gerade in diesem Fall nicht der Fall sein. Leider.
Und wie gesagt: Home ist out. Und zwar totally. Wenigstens bei mir. Auch ich habe in der Krise meine Wohnung umgestellt und ein paar neue Möbel angeschafft. Das Esszimmer ist nun dort, wo zuvor das Studierzimmer war, welches nun dort zu finden ist, wo früher das Schlafzimmer war. Ich bin des Einrichtens und Umstellens müde, möchte mein Zuhause nicht nochmals neu dekorieren und noch wohnlicher machen. Im Gegenteil. Ich möchte die Wohnungstüre öffnen und aus dem Haus gehen und alles hinter mir lassen und in den Zug steigen und nach Milano fahren, beispielsweise, wieder ein bisschen den Duft der weiten Welt einatmen, und zwar maskenlos, die Grösse der Welt spüren oder wenigstens jene Europas, vor dem Ristorante Latteria an der Via San Marco gerne vierzig Minuten auf einen Tisch warten und dann die ganze Menükarte bestellen, danach im Parco Sempione unter einer Atlas-Zeder auf einer Parkbank dösen.
Okay, wenn ich in Milano dann per Zufall in den Showroom des Möbelherstellers Cassina an der Via Durini trample, dann könnte es schon sein – eventuell, vielleicht, möglicherweise –, dass ich mir dort einen Soriana-Sessel von Afra und Tobia Scarpa bestelle für zu Hause, denn irgendwann muss ich da ja wieder hin, zudem – so denke ich, leider – wird alles früher oder später wieder von vorne losgehen. Und diese Zeit stelle ich mir in einem Soriana-Sessel nicht einfacher vor, bequemer aber schon.
Max Küng