Wenn der gerade einmal 39-jährige Kevin John Edusei den Taktstock schwingt, gerät die Musikwelt ins Schwärmen. Von kühner Eleganz ist dann die Rede, von begnadetem Talent und auch vom «Wunderdirigenten». Neben seiner Position als Chefdirigent der Münchner Symphoniker ist der gebürtige Bielefelder deutsch-ghanaischer Herkunft seit der Saison 2015/16 nun Chefdirigent am KonzertTheater Bern, wo er mit anhaltendem Erfolg die Hauptstadt musikalisch verzaubert. Kevin John Edusei – ein so charismatischer wie leidenschaftlicher Musiker, der international für Furore sorgt.
Herr Edusei, Sie kommen gerade von den Proben. Woran arbeiten Sie zurzeit?
Wir proben an einem faszinierenden Stück von Toshio Hosokawa. Ein japanischer Komponist, der einen Grossteil seiner musikalischen Sozialisation sozusagen in Deutschland erfahren hat, aber auch sehr stark in der traditionellen japanischen Musik verankert ist.
Jedes Werk hat seine eigene Herausforderung, worin besteht diese bei «Hanjo»?
Die besondere Herausforderung ist hier das ganz andere Zeitverständnis, bei dem unsere westeuropäische Vorstellung von Zeit mit der asiatischen Vorstellung von Zeit aufeinanderprallt. In dieser Musik gibt es Zustände, die unglaublich langsam verlaufen und die einfach da sind. Darauf muss man sich mental erst einmal einlassen und es auch zulassen. Das erfordert eine unglaubliche Konzentration.
Nun hat jeder Dirigent seine eigene Handschrift. Wie würden Sie Ihre beschreiben?
Oh, ich hoffe immer als Dirigent, dass ich meine Handschrift so flexibel wandeln kann, dass ich letzten Endes das Stück «schreibe», das sich der Komponist vielleicht vorgestellt haben könnte. Das ist eigentlich das grösste Bestreben, sich die Handschrift des Komponisten zu eigen zu machen.
Wie nähern Sie sich einem Werk in der Vorbereitung?
Das ist ganz unterschiedlich. Wenn einem die Handschrift eines Komponisten sehr liegt oder man mit seinem Repertoire vertraut ist, dann hat man natürlich gleich einen Zugang, der auf Erfahrung basiert. Es gibt aber auch Komponisten, bei denen der Weg etwas steiniger ist und wo es manchmal ein intensives Ringen um die Materie gibt, um sich etwas zu eigen zu machen und um eben diese Handschrift zu entziffern. In der Oper gehe ich ganz gern über Texte und natürlich über die Libretti und die Literatur.
Gehen Sie dabei über die Musik hinaus? Sozusagen als Reise durch eine Ära oder Dekade?
Unbedingt. Ich finde das ganz spannend, wenn man wie ein Archäologe graben muss und dabei auf Funde oder Zusammenhänge dieser Zeit stösst, die man so gar nicht vermutet hat. Ich empfinde es für uns klassische Musiker als ein grosses Privileg, dass wir eben auch vergangene Zeiten wieder präsent machen und gleichermassen an modernen Stoffen arbeiten können.
Besteht in diesem Prozess manchmal die Gefahr, die Distanz zu einem Werk zu verlieren?
Manche Werke bergen die Gefahr, dass man sich zu stark mit ihnen identifiziert. Ich denke aber, dass man im Moment, in dem man Musik gestaltet, eine gewisse Distanzlosigkeit zulassen muss, weil man sie sonst nicht mit Ehrlichkeit aufführen kann.
Nun ist ja die Interpretation eines Werkes immer ein grosses Thema. Wie nah arbeiten Sie an dem, was das Werk vorgibt?
Das ist eine sehr interessante Frage. Wenn man beispielsweise Aussagen verschiedener Barock-Spezialisten zu einem Werk vergleicht, merkt man, wie unterschiedlich die Umsetzungen sein können. Aber gerade heute, mit unserem geschulten Bewusstsein und dem Wissen über die historische Aufführungspraxis, versteht man, dass es nicht nur um die absolute Nähe zur Partitur geht. Es geht vielmehr um die Frage, wie ich den Kern eines Stückes – egal mit welchen Mitteln – erreiche oder worin eigentlich der Kern dieses Stückes besteht. Geht es darum, einen möglichst historisch korrekten Rahmen zu finden, oder brauchen wir vielleicht eine Übersetzung, damit wir das mit unseren heute geschulten Ohren richtig verstehen können?
Auch die Aufführungsbedingungen sind heute vollkommen andere …
Das ist richtig. Unsere Räume sind heute anders, unsere Instrumente sind anders, aber allem voran sind unsere Ohren heute ganz andere als damals. Wir sind in vielerlei Hinsicht sehr abgestumpft oder erkennen bestimmte Chiffren gar nicht mehr, weil wir sie als solche nicht entziffern können. Eine gewisse Dramatik oder eine Symbolkraft geht manchen Stücken dadurch abhanden, dass wir bestimmte Wendungen gar nicht mehr so präsent haben. Es gibt zum Beispiel harmonische Wendungen in Beethovens Symphonien, aber auch bei einem Klavierkomponisten wie Chopin, der wirklich die kühnsten Modulationen geschrieben hat, die aber für unsere heutigen Ohren gar nicht mehr so kühn klingen, weil wir das schon längst gewöhnt sind.
Hat die klassische Musik ein Publikumsproblem?
Ich glaube überhaupt nicht, dass die klassische Musik ein Publikumsproblem hat, wie das oft dargestellt wird, sondern dass wir in einer Zeit leben, wo eher demnächst eine viel grössere Sehnsucht nach der Authentizität entstehen wird, die wir in der klassischen Musik zeigen. Wir spielen «live», mit ganzem Körpereinsatz, und produzieren akustisch. Die Musik ist in dem einen Moment da und im nächsten schon wieder verklungen. Das, finde ich, ist das Faszinierende an der Musik und macht sie besonders.
Bevor Sie Chefdirigent in Bern wurden, waren Sie Erster Gastdirigent in Bern. Wie kam es dazu?
Ein absoluter Zufall und eine glückliche Fügung, denn ich kannte das Berner Haus vorher gar nicht. Zum ersten Mal habe ich 2012 hier dirigiert. Damals bin ich für eine Lucia-di-Lammermoor Vorstellung eingesprungen. Das Orchester und ich waren sehr glücklich miteinander, sodass wir gesagt haben, dass wir gerne unsere Arbeit fortsetzen würden, was wir mit W. A. Mozarts «Entführung aus dem Serail» äusserst erfolgreich getan haben. So hat sich diese Zusammenarbeit angelassen.
Sie sind ebenfalls Chefdirigent der Münchner Symphoniker. Wie gelingt Ihnen der Spagat zwischen den beiden Häusern?
Es gibt immer unterschiedliche Produktionszeiträume, die ich mir für das jeweilige Haus reserviere. Wenn ich in Bern arbeite, dann gibt es natürlich auch Gastdirigenten, die mein Orchester in München dirigieren. Schlussendlich klappt das aber dank einer klugen Disposition meiner Zeit und durch das grosse Verständnis beider Intendanzen und Direktionen.
Welches waren Ihre wichtigsten Mentoren auf Ihrem Weg zum Dirigenten?
Wichtige Mentoren sind Jacques van Steen und Ed Spanjaard, die meine ersten Dirigierlehrer waren und ganz wichtige Personen sind, wo nach wie vor der Kontakt besteht und man sich kollegial austauscht. Im weiteren Verlauf war Péter Eötvös als Komponist und Dirigent eine ganz wichtige Person, ein Fixpunkt, dem ich sehr viel zu verdanken habe durch seine Art und Weise, wie er sich mit Musik beschäftigt und wie existenziell Musik für ihn ist. Und natürlich Dirigent David Zinman, bei dem ich drei Monate in Aspen, Colorado, studieren durfte und der mich an einem ganz wichtigen Punkt in meiner Karriere im Übergang vom Studium zur professionellen Laufbahn sehr unterstützt hat.
Erinnern Sie sich daran, wie es war, das erste Mal vor einem Symphonieorchester zu stehen?
Das ist natürlich ein Adrenalinschub ohnegleichen und zugleich eine körperliche «Ur-Erfahrung», weil man durch Bewegung einen Klang evozieren kann. Wenn mit einem selbst 100 Menschen gleichzeitig einatmen und man einen Klang produziert, dann ist das etwas sehr Faszinierendes.
Kennen Sie Nervosität?
Das war am Anfang durchaus ein Thema und ich kann mich an Situationen erinnern, in denen mein Taktstock ganz leicht zitterte. Aber das hat sich sehr schnell gelegt, weil ich gemerkt habe, dass ich mit dem, was ist tue, angekommen bin und mich wohlfühle. Weil ich das Gefühl habe, mit der Materie vertraut zu sein und dass ein Orchester mein Instrument ist.
Was würden Sie sich wünschen, was die Menschen nach einer Ihrer Aufführungen fühlen?
Dass sie beseelt sind, dass sie angeregt sind, dass sie emotional angesprochen worden sind, dass sie vielleicht mit etwas «Andersartigem» konfrontiert worden sind und etwas dauerhaft mitnehmen können.