Vor genau 30 Jahren hat ein kleiner illustrer Kreis der Zürcher Öffentlichkeit den Konstruktivismus schmackhaft gemacht: peu à peu. Inzwischen ist ein Museum herangewachsen mit eigener Sammlung. In über 200 Ausstellungen wurde die Entwicklung der konstruktiv-konkreten und konzeptuellen Kunst thematisiert und anschaulich gemacht. Dieses Jubiläum wird das ganze Jahr hindurch in Form von 30 Veranstaltungen gefeiert: mit Lesungen, Vorträgen, Performances, Tanz- aufführungen, Künstlergesprächen, Konzerten, Führungen und auch mit kunstvermit- telnden Aktionen für Kinder und Jugendliche. All die Events verfolgen die Absicht, einen lebendigen und vertieften Zugang zu wichtigen Fragestellungen rund um die ungegenständliche Kunst zu ermöglichen. Wir haben für unsere Leser zwei Highlights aus dem Jubiläumsjahr 2016 herausgepickt. Am Anfang steht aber ein kleiner Exkurs durch das Wesen der konstruktiven Kunst. Pardon: Wir möchten keinen sonntagsschullehrerhaften Groove verbreiten, aber vielleicht macht der kleine Lehrgang Lust darauf, direkt am Ort des Geschehens diese Form von Kunst näher kennenzulernen – im HAUS KONSTRUKTIV.
Die Anfänge des Konstruktivismus reichen in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück. Die Richtung hatte zeitweise den Charakter einer politischen Bewegung und wurde im revolutionären Russland entwickelt. Der Begriff für die Kunstform verweist auf das lateinische Wort constructio: «zusammenfügen» und «Bau». Charakteristisch ist ein einfaches geometrisches Formenvokabular wie auf dem berühmten Bild Schwarzes Quadrat auf weissem Grund von Kasimir Malewitsch. Die neue Kunstrichtung, der in den theoretischen Manifestationen auch ein gesellschaftliches Moment innewohnte, beinhaltet Malerei, Plastik, Architektur, Möbeldesign, Bühnenbild und Plakatgestaltung. Oft fehlte in den malerischen Darstellungen jegliche perspektivische Raumillusion. In der konstruktivistischen Kunst findet man keine menschlichen Figuren, Tiere, Landschaften oder gegenständlichen Objekte. Die Konstruktivisten vertraten ein geometrisch geprägtes Gestaltungsprinzip mit Farbflächen, Linien und strengen Grund- formen. Die Künstler des Konstruktivismus bezeichneten sich selbst als «Bildner» und lehnten naturalistische Nachbildungen kategorisch ab. Hier die bedeutendsten Vertreter der konstruktivistischen Kunstform: Kasimir Malewitsch, Ljubow Sergejewna Popova, Josef Albers, Lyonel Feininger, Sophie Taeuber-Arp, Thilo Maatsch, Victor Vasarely, Max Bill, Richard Paul Lohse, Johannes Itten, Frank Stella, László Moholy-Nagy, Wassily Kandinsky und Barnett Newman. Der Konstruktivismus entstand parallel zum Dadaismus und zum Futurismus Mitte der 1910er Jahre. Seine Quellen und Inspirationen waren die angewandte Kunst wie gewobene Teppiche oder textile Muster. Aber auch die neuen technischen Errungenschaften und der Kubismus beeinflussten ihn.
Ist es okay, keine Ahnung zu haben … ?
Dann ist es vielleicht okay, sinngemäss den Autor Thomas Assheuer zu zitieren, der einem Kongress konstruktivistischer Vertreter aus der darstellenden Kunst und der Philosophie beiwohnte und die am Kongress langsam um sich greifende Konsternation in einem Essay festhielt: Wenn Konstruktivisten in die Realität erwachen.
«In der Lage, wenn Fragen der Menschen unbeantwortet bleiben, die Synapsen schweigen und männiglich realisiert, dass die Metabiologie nicht gleich Metaphysik ist, dann, ja dann fühlen sich die dem Konstruktivismus verschriebenen Gruppen, egal ob darstellende Künstler, Therapeuten oder Hirnforscher, in ihrem Element. Nur allzu gern wird allmählich ein Feindbild konstruiert mit dem Lieblingsgegner Ontologie, die behauptet, unsere Sinnordnung sei ein Spiegel der Weltordnung. Doch leider war unter den Kongressteilnehmern kein einziger Ontologe zu finden. Doch ohne Gegner zerfällt der Konstruktivismus in die Summe seiner Konstruktion. Wie seit langem nicht mehr sassen sie sich also sprachlos gegenüber. Jeder lebte in seiner Welt und grüsste weise seinen Nachbarn. Meine Wahrheit, deine Wahrheit. Danach war der Traum von der Metakonstruktion, einer Einheit von Natur- und Geisteswissenschaften, ausgeträumt. Der Kongress erwachte in der Realität.»
Diese Begebenheit mag aber auch verdeutlichen, dass der Konstruktivismus und seine Kunstform nicht nach jener alles erlösenden Wahrheit für unser Leben suchen. Es ist eine Wahrheit, die in sich zerfällt von dem Augenblick an, wo man den Versuch unternimmt, sie deuten zu wollen. Es ist also okay, mit welcher Anschauung wir auch immer durchs Leben gehen, dass wir (fast) keine Ahnung haben.
Eine aufklärerische Begegnung mit Sabine Schaschl
Ich wollte von Sabine Schaschl, der Direktorin des Hauses Konstruktiv, wissen, ob es eine objektive Realität gibt. «Der Mensch hat kaum Zugriff auf eine objektive Realität. Das, was er gerade mit seinen Sinnen aufnimmt und in Verbindung mit seinen gemachten Erfahrungen bringt, ist seine Realität; demnach ist sie ein wechselspielendes Konstrukt, das dem entspringt, was jetzt gerade ist, und dem, was ihn durch Erfahrungen geprägt hat. Konstruktivismus meint ja gerade eine Denkschule, die sich mit der Wahrheit plagt, dass es keine allgemeingültige Wahrheit gibt. Für mich hat die Wirklichkeit viele Facetten und Gesichter.»
«Um die Ecke denken» ist das Etikett der Jubiläumsausstellung 30 Jahre Haus Konstruktiv. Was wird dem Publikum innerhalb dieser Ausstellung gezeigt? «Tatsächlich, 2016 ist für das Museum Haus Konstruktiv ein wichtiges Jahr. Aus Anlass des 30-jährigen Bestehens wird unsere kontinuierlich gewachsene Sammlung mit der gross angelegten Gruppenschau ,Um die Ecke denken‘ gewürdigt: ab 2. Juni bis 4. September. In dieser Ausstellung verzichten wir bewusst auf externe Leihgaben und konzentrieren uns auf Werke aus dem Fundus der Sammlung. Die Auswahl erfolgte aus über 900 Werken, von denen mehr als 100 seit dem letzten Jubiläumsjahr 2011 hinzugekommen sind. Diesen Neuzugängen und dem historischen Erbe einiger Schlüsselfiguren der konstruktiv-konkreten Kunst möchten wir besondere Aufmerksamkeit schenken, begleitet von faszinierenden Gastinterventionen», erklärt Sabine Schaschl.
Sabine Schaschl, das dringt in den mit ihr geführten Gesprächen immer wieder durch, reibt sich mit ihrer offenen Weltanschauung immer wieder an Dogmen und Verbohrtheiten von Vertretern des Kästchendenkens. Sollte man diesen Standpunktfixierten nicht auch dankbar sein? Es sei erlaubt, nachzufragen. «Das sollte man vielleicht. Ich bin es aber nicht, da vorgefasste Auffassungen und ein scheinbares Vorverständnis unvermeidlich den Dialog hemmen. Sofort wird eine ,Glaubensgemeinschaft‘ institutionalisiert, man spricht von ,Linken‘, von ,Rechten‘ von ,Konstruktivisten‘ und ,Antikonstruktivisten‘ und, und, und. Das Blockierende daran: Jeder weiss unverzüglich, was und wer gemeint ist und was die Gegenseite denkt. Der Dialog ist dann beendet, ohne wirklich begonnen zu haben. So betrachtet wollen wir mit unserem Museum gerade das Sich-Auseinandersetzen fördern mit einer Kunst, die auf eine artige Packungsbeilage verzichtet.»
Es tut gut, zu spüren, dass hier in diesem Zürcher Kunstetablissement jedwede Etikettierung aussen vor bleibt. Es tut dem Haus gut. Es tut der Kunst gut. Es tut dem Besucher gut.
Christian Herdeg
Christian Herdeg lebt und arbeitet in Zürich. Er befasst sich seit über 40 Jahren mit dem Medium Kunstlicht. Als einer der ersten Schweizer Künstler, der Leuchtstoffröhren einsetzte, wird er heute zu den Pionieren der Lichtkunst gezählt. Im Zentrum seines Schaffens steht die künstlerische Auseinandersetzung mit physikalischen und optischen Eigenschaften von Licht und dessen auratischer Präsenz. Herdegs sublime Neonlichtskulpturen haben im Laufe der Jahre eine zunehmende Tendenz zur Reduktion und deutliche Verbindungen zur Minimal Art erkennen lassen. In Anlehnung daran kreiert Herdeg Farblichtfelder in verschiedenen Variationen, mit denen er die räumliche Dimension von Licht und Farbe in Szene setzt und zu einer Synthese von Lumineszenz und Körperlichkeit gelangt.