An was ich wohl in meiner Verlorenheit als unverbesserlicher Kalenderphilosoph dachte, als ich den Einstieg ins Interview mit einer sagenhaft tiefsinnigen Frage eröffnete: «Lieber Max Küng, an was glauben Sie?» Ich lehnte mich genüsslich in den Stuhl zurück und war davon überzeugt, ihn auf dem linken Bein zu erwischen. Denkste! «Eigentlich an nichts. Doch, ich glaube daran, dass er FC Basel nicht absteigen wird.» Eins zu null, leider nicht für mich. Prompt hat er mich doch gnadenlos ausgedribbelt, was sage ich da, getunnelt hat er mich. Ich schwöre mir, nie, aber gar nie mehr ein Interview mit dieser Frage zu beginnen. Besonders, wenn einer wie Max Küng vis-à-vis sitzt und die Kunst der liebevoll angesetzten Nadelstiche beherrscht wie kein Zweiter. Schliesslich ist er ja ein Lionel Messi der Sprache. Genial mit Worten und Gedanken jonglierend.

Woran glauben Sie?
Ich glaube daran, dass der FC Basel nicht absteigt. Wenigstens diese Saison nicht.

Bei welchem Ereignis der Geschichte wären Sie gern dabei gewesen?
Das Grossartige am Schreiben eines Romans ist, dass man überall dabei gewesen ist, in Gedanken … aber ich sehe schon, Sie meinen natürlich nicht die Geschichte meines Romans, sondern die Geschichte im Sinne der «Greatest Hits» der Vergangenheit. Da bin ich vor allem froh, bei vielen Ereignissen nicht dabei gewesen zu sein. Am schlimmsten wäre wohl, wenn man Zeuge seiner eigenen Zeugung gewesen wäre. Eine schreckliche Vorstellung.

Wie sieht die Zukunft aus, generell betrachtet?
Sehr gerne mag ich den Titel eines Songs der Band Timbuk 3: «The Future’s So Bright, I Gotta Wear Shades». Doch glücklicherweise wissen wir nicht, was sein wird. Dies ist definitiv eine Gnade.

Wie modellieren Sie Ihre Romanfiguren: In bildhauerischer Kleinarbeit, Schlag auf Schlag oder der Eingebung des göttlichen Einfalls folgend?
Sie kommen jedenfalls nicht aus dem 3-D-Drucker. Die Figuren sind liebevoll zusammengeschnipselte Collagen, bestehend aus vielen Teilen, ein bisschen so wie Frankenstein-Monster, einfach etwas schöner zusammengenäht. Und so manchen Charakterzug, sei er gut oder schlecht, schneidet man aus sich selbst heraus.

Nehmen Sie eine Figur aus Ihrem Roman «Fremde Freude» und machen Sie für den Leser eine kleine Charakterskizze. Zeigen Sie bitte, wie Sie deren Charaktereigenschaft auf die Spur gekommen sind.
Ich mag natürlich alle Figuren meines Buches, aber vor allem mag ich Jean, der gerne kocht und isst und andere verwöhnt. Ein ganz lieber Kerl, den alle gern haben. Aber eigentlich heisst er gar nicht Jean, sondern Hans. Er hat sich in jungen Jahren selbst umbenannt. Und vielleicht ist seine Grosszügigkeit doch gar nicht so selbstlos, wie man auf den ersten Blick meinen könnte? Jean ist so, wie alle meine Figuren sind: schwer ambivalent. Er ist eben auch nur ein Mensch …

Folgen Ihre Plots einem «architektonischen» Grundgerüst mit Haupt- und Nebenschauplätzen?
Ohne groben Bauplan geht es nicht. Aber vieles entscheide ich spontan, denn wie auf einer Baustelle üblich, entstehen ständig neue Probleme, die gelöst werden wollen. Der von mir sehr geschätzte Schriftsteller E.L. Doctorow sagte einmal: «Writing is like driving at night in the fog. You can only see as far as your headlights, but you can make the whole trip that way.» Ich finde, das trifft es wunderbar: Stück für Stück … bis zum Ende.

Bedient sich ein Max Küng gelegentlich auch bei ChatGPT?
Nein, weil: Selbstgemachtes macht mehr Freude. Die einzigen Hilfsmittel, die ich verwende, sind der Duden, Wikipedia und Google Street View. Ich versuche jedoch, auf Wikipedia zu verzichten, wann immer es geht – schlage lieber im 24-bändigen Brockhaus nach, der bei mir im Büro steht. Ich möchte so analog wie möglich arbeiten. Bei Wikipedia steht so viel Interessantes, da verliert man gerne schnell ein, zwei Stunden, wenn einem das Internet verschluckt.

Zitat aus dem zweitletzten Absatz von «Fremde Freunde»: «Neun Menschen stiegen in Autos, neun Türen wurden zugeknallt, neun dumpfe Schläge. Die Wagen fuhren den Berg hinunter, die Scheibenwischer ächzten und quietschten, der Regen war stärker geworden, trommelte auf die Autodächer. Sie fuhren durch den Wald hindurch, alle in dieselbe Richtung, aber alle hatten sie andere Ziele …» So wie Sie die Protagonisten aus Ihrem Roman entlassen haben, so bleibe ich als Leser zurück: mit der grossen Frage, warum wir in vielen Situationen des Lebens gemeinsam einsam bleiben. Gibt es einen Weg, aus diesem sich immer wiederholenden Muster auszubrechen?
Ich denke, dass Familie etwas sein kann, das einen vor Einsamkeit bewahrt. Und Freundschaft. Aber echte Freundschaft, nicht so wie in meinem Buch.

Wann haben Sie das letzte Mal gedacht, Ihrem Vater in gewissen Dingen immer ähnlicher zu werden? Wohlverstanden, von mir kein tiefenpsychologisches Anschleichen in kafkaesker Manier an die Liaison mit seinem Vater …
Natürlich ist ein Vater ein Vorbild, in gewissen Dingen vielleicht ein Vorbild dafür, wie man nicht sein möchte. Aber schlussendlich sind alle Bestrebungen bloss Versuche. Man kann sich selbst nicht entrinnen, aber man kann an sich arbeiten.

In welchem französischen Ort spielt dieses unheilvolle Zusammentreffen? «Bagatelles / Lappalien». Was für eine Idee steckt hinter den Kapiteltiteln in Deutsch und Französisch?
Was die zweisprachigen Kapiteltitel angeht: Ich dachte, das wäre eine gute Gelegenheit, ein bisschen Französischunterricht einfliessen zu lassen. Die Inspiration dafür habe ich von «noblen» Restaurants, in denen die Karte ja auch gerne zweisprachig gehalten ist, um die Sache etwas aufzumöbeln. Was den Ort angeht: Er ist fiktiv, aber die Gegend ist real, sie heisst Franche-Comté, schmiegt sich zu einem schönen Teil an die Schweizer Grenze. Sie ist also nicht gerade exotisch fremd, aber dennoch komplett anders. Dies schien mir ein ideales Setting für meine Geschichte.

Was mir an all Ihren Texten gefällt: Sie haben nicht das Charisma eines sauertöpfischen Oberschullehrers. Im Gegenteil. Ihre Gedanken sind frech-frivol, mit einer feinen Portion Ironie, knapp am Ketzerischen vorbei; liebevoll auf unsere Unfähigkeit geschaut, nicht aus den Ruinen der Gewohnheiten ausbrechen zu können. Ist Ihre legere, coole Art auch Teil genetischer Einwirkung? Von wem haben Sie Ihren Mutterwitz geerbt?
Von meinem Vater wohl. Er war ein lustiger Mensch. Nicht immer, aber manchmal schon. Nicht alle seine Witze waren gut, vor allem aus heutiger Sicht nicht. Aber ich lernte schon in jungen Jahren eine ziemliche Bandbreite von so etwas wie Humor kennen.

Welche drei Wörter beschreiben Sie?
Pizza. Meer. Himmelblau.

Nennen Sie uns drei Unwörter, die nie in Ihrem Vokabular Unterschlupf fänden?
Unwörter sind manchmal ja auch ganz gut, wenn sie einer Sache dienen, wenn sie in einer Geschichte beispielsweise von einem Unmenschen ausgesprochen werden, deshalb möchte ich grundsätzlich nichts ausschliessen. Aber ich schreibe lieber Trottoir statt Geh- oder Bürgersteig, Portemonnaie statt Brieftasche oder Coiffeur statt Frisör.

«Wir kennen uns doch kaum», der Titel eines von Ihnen verfassten Romans. Wie gut kennen Sie sich selbst?
Es ist sicherlich einer der Vorteile, Kinder zu haben, dass man durch sie auch mehr mit sich selbst konfrontiert wird, vor allem mit den Dingen, die man über Jahre erfolgreich verdrängt oder vernachlässigt hat. Es gibt ja doch einen Unterschied zwischen dem Menschen, der man ist, und jenem, der man sein möchte. Ich kenne mich mittlerweile ziemlich gut. Und ich weiss nun auch, wann ich mir selber besser aus dem Weg gehe.

Als ich kürzlich bei mir am See entlang spazierte, hatte ich drei Bedürfnisse. Ich brauchte Entspannung, Entschleunigung und ein Naturerlebnis. Letztlich stillte ich keines davon. Ich ging unter im Platzregen von Nachrichten, die vom Handy auf mich niederprasselten. Wie schützen Sie sich vor diesen Nachrichtenbiestern?
Ich habe vor Jahren schon mit Facebook Schluss gemacht und nun auch mit Instagram. Aber ja: Sie ist eine Herausforderung, die Abhängigkeit von diesen kleinen Geräten. Auch ich bin süchtig. Vor allem, seit ich diese verdammte Jass-App runtergeladen habe. Die muss ich unbedingt löschen.

Während sich der Sprachwandel früher stetig, aber langsam vollzog, verändert sich die Welt dank der Digitalisierung heute schneller – und damit auch die Sprache. So werden auch Emojis, GIFs, Memes und Abkürzungen wie LOL oder OMG in unsere Art zu kommunizieren aufgenommen. Können Sie sich vorstellen, einen Essay zu verfassen, bewusst überfrachtet mit Kürzeln aus dem SMS-Repertoire?
Das ist ja das Grossartige an unserer Sprache: Dass sie stetig in Bewegung ist und sich verändert, dass neue Worte hinzukommen und andere verschwinden – und man sie irgendwann wiederentdecken kann. Und ich habe grad eben eine Kolumne fürs Magazin geschrieben, in dem die Worte Skibidi, Gyatt und Rizzler vorkommen. Und vor ein paar Jahren habe ich ebendort mal eine Kolumne geschrieben, in der Künstler mit Emojis beschrieben werden. Die Banane für Andy Warhol. Das Glace- und Meer-Emoji für Caspar David Friedrich, wegen seinem berühmten Bild «Das Eismeer».

Künstliche Intelligenz: Fluch oder Segen?
Unausweichliche Realität. Verbunden aber mit einer nicht zu kleinen Portion Unbehagen.

Quo vadis Freiheit in Zeiten von künstlicher Intelligenz: Denke ich das noch oder ist das schon KI? Die rasante Entwicklung auf dem Feld der künstlichen Intelligenz macht vielen Menschen Angst. Denn Algorithmen und KI beeinflussen mich jetzt schon mehr, als mir lieb ist. Wohin führt das?
In der Tat beängstigend. Wenn ich im Internet irgendwo hingoogle, dann erwartet mich dort schon Werbung für Produkte, über die ich eben erst nachgedacht hatte. Es gibt eine sehr gute Fernsehserie zum Thema, etwas düster, etwas brutal auch, vor allem aber sehr klug: «Westworld», eine Neuinterpretation des Science-Fiction-Klassikers mit Yul Brynner als Cowboy-Androide.

Was können Sie nicht, was die meisten anderen Menschen gut können?
Ich kann leider kein Instrument spielen. Das ist die Tragödie meines Lebens. Denn Musik ist sehr wichtig. Mich musikalisch ausdrücken zu können, wäre wunderbar. Aber vielleicht gehe ich bald in die Klavierstunde. Das wäre ein gutes Projekt für das nun unausweichlich langsam beginnende hohe Alter: Einen Boogie-Woogie auf dem Piano klimpern zu können, schnell wie einer von Che & Ray.

Wenn Max Küng eine Musik wäre, welche wäre das?
«Tubular Bells» von Mike Oldfield.

… und ein Buch?
Meyers Kleines Taschenlexikon, die Ausgabe von 1969.

… und ein Wetter?
So wie Wetter in Schottland an einem x-beliebigen Tag: Da ist immer alles dabei.

… und ein Bonmot?
«Schreiben ist leicht. Man muss nur die falschen Wörter weglassen.» Ich glaub, das ist von Mark Twain. Bringt jedenfalls vieles auf den Punkt.

… eine Patisserie?
Ein Zitronentörtchen vom Honold. Und zu guter Letzt: Wenn Sie ein Möbelstück wären? Ein gelber Womb Chair von Eero Saarinen.

Demnächst im Kein und Aber Verlag: Der neue Roman von Max Küng. Können Sie schon ein wenig aus dem Nähkästchen plaudern?
Aber gerne! Es gibt eine Fortsetzung von «Fremde Freunde». Nach dem Ende der Geschichte geht die Geschichte selbstverständlich weiter. Eigentlich hatte ich nicht vor, einen zweiten Teil zu schreiben, ich war schon mit einem anderen Stoff beschäftigt. Aber die Figuren liessen mir keine Ruhe. Sie lebten weiter ihre Leben, trieben ihre Dinge. Also begann ich, diese aufzuschreiben. Und sie werden sich wiedersehen, aber nicht in Frankreich, sondern in der Toskana.

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