Performender Künstler. Lebenskünstler. Mitbegründer des Elektropops. Frontman von YELLO. Poet. Sänger: «OUT OF CHAOS». Biofarmer. Rinderzüchter. Weinbauer. Gastronom. Kinderbuchautor, Filmemacher, Autor, Chocolatier. Unvollendeter der Jurisprudenz. Banker. Pokerspieler. Und was niemand für möglich hielt: Jetzt geht er mit seinem langjährigen YELLO-Kumpan auf eine Live-Tournee. Die beiden starten nach 38 Jahren Enthaltsamkeit eine neue Ära. Boris Blank scheint seine Bühnenempfindlichkeit überwunden zu haben und probt mit Dieter Meier den Aufstand, sprich: Auftritt vor einem Live-Publikum. Was trotz 12 Millionen verkaufter Alben bisher nicht klappte, wird alsbald schöne Wirklichkeit. Vier Konzerte im Kraftwerk Berlin waren nach wenigen Tagen ausverkauft. Internationale Booking-Agenturen wollen die Herren Blank und Meier mit dem «Sound of YELLO» auf eine Welttournee schicken.
Wer aber ist Dieter Meier nun wirklich … ?
Dies zu erklären ist mitunter schwieriger als einem Kind klar zu machen, warum der Himmel blau und nichts schneller als das Licht ist. Nun, das Licht hat keine Masse und kann deshalb so schnell sein … Dieter Meier ist einfach ein gelungener Mensch. Punkt. Sicher ist er kein Sackgassentyp, viel eher eine nette Art Zürcher Legende, eine Lichtgestalt, die eben lichtschnell unterwegs ist in einer Welt, die er immer wieder neu zu entdecken scheint. Auch mag er wohl ab und zu an dieser drehen, ohne genau zu wissen, wie sie sich gerade dreht. So what! Als Pokerspieler wird er gelernt haben, «um die Ecke» zu denken oder einen Bluff erfolgreich durchzuziehen. Die Connaisseurs wissen es: Beim Poker macht der Bluff erst Sinn, wenn es um einen grösseren Pot geht. Ziel ist es, dem Gegner vorzumachen, dass man über Karten verfügt, die man gar nicht besitzt. Bluffen ist ein Aspekt des Spiels, aber erst die richtige Dosierung macht ihn wertvoll. Dieter Meier ist weder Bluff noch angemessene Dosierung. Auch wenn er in so vielen und ganz unterschiedlichen Disziplinen daherkommt, er macht es mit hoher Professionalität und mit einer Wucht, die uns unfähig macht, diese schwindelerregende Höhe nur halbwegs mit unserem Verstand erklimmen zu können. Einige Episoden aus seinem Künstlerleben mögen vielleicht etwas Nachhilfe bieten: 1968 setzte er am Haupteingang des Warenhauses Globus ein Strassentheater in Szene, gab 1971 in New York jedem Passanten eine Quittung über einen US-Dollar, der zu ihm die Worte «Yes» oder «No» sagte. 1972 liess er an der documenta 5 am Kasseler Bahnhof eine Metalltafel mit folgender Aufschrift einbetonieren: «Am 23. März 1994 von 15 bis 16 Uhr wird Dieter Meier auf dieser Platte stehen.» Und er war da, zwei Jahrzehnte später. Viele Jahre danach erzählte er dazu in einer NDR-Talkshow: «Zeit und Endlichkeit, das beschäftigt mich in ganz vielen Aspekten. Das war wirklich ein berührendes Ereignis, exakt 22 Jahre später dort zu stehen, was ja eine Anmassung war. Hunderte von Leuten standen da. Für die war diese Tafel etwas, über das sie täglich zur Arbeit gingen, und dass da irgendein Meier 22 Jahre später stehen würde, das war wie ein Memento mori (lat.: Denke daran, dass du stirbst). Es war dieses unsinnige Datum einer höchst unwichtigen Tatsache. Die Leute kamen, um zu sehen, was das für ein Kerl sei. Ich hatte mir vorgenommen, eigentlich nichts zu reden, sondern einfach dazustehen. Ich habe mit Dutzenden Leuten geredet, die mir sogar ihr Flugticket zum Unterschreiben unter die Nase hielten.»
Stimmt wohl nicht schlecht, wenn er sich selber im Sinne der Aufforderung des Wanderpredigers aus Nazareth «werdet wie die Kinder» als Suchender seiner selbst bezeichnet, der sich wie ein Bergsteiger immer wieder neuen Herausforderungen stellt, um so sich selbst näher zu kommen. Ich bin «ä gwundrigs Chind». Man ist geneigt, bei ihm unweigerlich nach der Herkunft seines Gleichmuts, seiner Nonchalance zu forschen. Müssiggang oder doch eher Laune des Zufalls? Von Zufall spricht man dann, wenn für ein einzelnes Ereignis oder das Zusammentreffen mehrerer Ereignisse keine kausale Erklärung gegeben werden kann. Als kausale Erklärung für Ereignisse kommen in erster Linie allgemeine Gesetzmässigkeiten oder Absichten handelnder Personen in Frage. Auch wenn man Dieter Meier nicht ins Räderwerk gemeingültiger Regeln einfügen kann: ein Zufall der Muse sind er und seine Vielbegabtheit sicher nicht. Eine Fügung? Vielleicht. Die Erklärung für Zufall ist also gerade der Verzicht auf eine Erklärung. Dieter Meier mag es mir nicht verübeln, ihn als Alchemisten zu orten: «Es gibt nur eine Möglichkeit, zu lernen und zu verstehen», entgegnet der Alchemist, «und das ist durch Handeln.» Dieter Meier ist ein Handelnder, in allem, was er tut. Er ist fast ein wenig ein da Vinci unserer Zeit, der hie und da schelmisch mit den Augen zwinkert und uns ob seiner Vieltalentiertheit verwundert zurücklässt. Er avanciert dann gewissermassen zum Lehrmeister und Impresario unseres Staunens; losgelöst von nuanciert hingeworfener Koketterie.
Vom Silicon Valley, der argentinischen Farm und dem Weingut über die 20 Jahre
dauernde Lightmare bis zur Vollendung seines Films «Lightmaker».
Als ich ihn am diesjährigen nasskalten Zürcher Sechseläuten in seiner Brasserie Bärengasse zu einem Gespräch traf, trug er die für ihn typischen äusserlichen Alleinstellungsmerkmale auf sich: Schnurrbart, Hals- und Einstecktuch. Im Gespräch habe ich den einen oder anderen Fixpunkt aus seinem Lebenslauf touchiert. So seine ersten Gehversuche als Filmregisseur, die bahnbrechenden Auftritte mit den Songs von YELLO, unter anderem mit dem Hit The Race. Auch den Unternehmer «Dieter Meier» haben wir in Revue vorbeiflanieren lassen: in der unsäglichen Geschichte mit der Erfindung eines digitalen Mischpultes und der noch unglücklicheren Marriage mit den IT-Gewaltigen des Silicon Valleys, welche ihn beinahe Kopf und Kragen kostete. Bleiben wir noch ein wenig beim Entrepreneur Meier. Auf den in der Pampa Humeda gelegenen Estancias Ojo de Agua und Algarobo betreibt Meier auf einer Fläche von 100’000 Hektaren eine rund 10’000 Rinder umfassende Rinderzucht der Rassen Hereford und Black Angus. Sowohl der Wein, den er im Weinbaugebiet Agrelo Alto in Mendoza und am Rio Negro in Patagonien anbauen lässt, als auch die Rinderzucht sind «all natural», die Wein-Marken Puro und Ojo de Agua sind sogar Bio-zertifiziert. In seinem Geschäft, das unter dem Namen Ojo de Agua (Auge des Wassers / Quelle) läuft, bietet er Wein, Fleisch, Mais, Getreide, Sonnenblumen, Nüsse und Wolle an. Seine Fleischprodukte und Weine haben schon seit längerer Zeit den Weg in die Regale von Schweizer Grossverteilern, aber auch in jene von ausgewählten Delikatessenanbietern gefunden. Bald kommt Schokolade hinzu. Die Fabrik dazu steht im Bau. Im Herbst 2008 eröffnete Meier seine Brasserie Bärengasse; Erfolg inklusive. Müsterchen aus der Küche gefällig? Bitteschön: Bärlauch-Gnocchi an einer Käsesauce mit Cherry-Tomaten. Himmlisch! Will man die lukullische Bodenhaftung nicht ganz verlieren, bestellt man Hackbraten oder ein Zürcher Kalbsgeschnetzeltes mit Rösti. Aber man kommt nicht umhin, auch das argentinische Black-Angus-Bio-Rindfleisch Ojo de Agua zu verköstigen. Nach der üppigen Ämmetaler Bäre-Merängge lohnt sich ein nächtlicher Abstecher in Meiers Atelier Bar. Sie verbreitet über ihr Ambiente, das dem Verschnitt aus der Wohnung eines Bonvivants und einer Galleria d’Arte gleichkommt, allenthalben ansteckend gute Laune.
Vom handelnden zum filmemachenden Dieter Meier.
Oder von einer schon fast apokalyptischen Irrfahrt.
Ja, dieser Spielfilm Lightmaker ist eine leidenschaftliche Geschichte. Eine Geschichte, die Leiden schaffte. Im Gespräch über den Film, dessen Weg zur Realisierung mit schier unüberwindbaren Hindernissen gepflastert war, hörte ich, zwar kaum wahrnehmbar, zwischen den Worten die fragilen Seiten Dieter Meiers mitschwingen. 20 Jahre hat er insgesamt am Film herumgewerkelt, bis dieser an der Berlinale und später in einer überarbeiteten Fassung am Zurich Film Festival der breiten Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Der Plot ist zwar einfach und auch schnell erzählt. Lightmaker ist die Geschichte von Rumo, einem Geiger aus New York, der seiner Geliebten Mira in die Unterwelt folgt, um sie aus dem Palast der Schatten zu befreien. Der Hofastrologe prophezeit ihm, dass nur seine Musik ihn zu Mira führen kann. Doch sein Spiel wird missbraucht, um einen gewaltig grossen Kristall zu erleuchten und jenes Licht in das Reich der Dunkelheit zu bringen, das dem König OSSO das Leben und die Macht zurückgibt. Am Schluss siegt die Musik. Der Film ist nie ganz beim Publikum angekommen. Wieso eigentlich nicht? Ich frage bei Meier nach und bekomme eine druckreife Antwort: «Die ersten Ideen für Lightmaker entstanden 1986. Ich wollte die Musik von YELLO live auf einer Bühne inszenieren. Es zeigte sich, dass das zu aufwendig war. So entschied ich, ein Drehbuch zu schreiben und einen Film zu machen, in dem meine frühen Experimente auf Zelluloid, die auch zu den YELLO-Videos führten, in einen erzählerischen Kontext gebracht werden. 1987 begann ich die Dreharbeiten in der Schweiz, aber ich entschied nach zwei Wochen, auf dem falschen Weg zu sein, und brach ab. 1990 fand ich in Wroclaw ein verschlafenes Filmstudio, in dem vor allem Hühner gezüchtet und Autos repariert wurden. Ein verschworenes Team von polnischen Künstlern und Technikern baute in fünf Monaten den zerfallenen barocken Palast der Schatten. Sechs Monate später waren die Dreharbeiten in New York abgeschlossen. Und nun begann die Odyssee der Fertigstellung. Ein Filmkopierwerk hatte durch einen Fehler grosse Teile des Negativs zerstört. Erst nach einem siebenjährigen Prozess sprach uns das Oberlandesgericht München einen Schadenersatz zu und auch das Negativ stand wieder zu unserer Verfügung. Die Vollendung des Films dauerte dann nochmals drei Jahre und wurde für mich fast zur Obsession. Ich wollte dem wunderbaren Material, das in Polen entstanden war, gerecht werden und den Film zu einem guten Ende bringen. Nach all den schwierigen Jahren wurde Lightmaker an die Berlinale eingeladen und im Zoopalast uraufgeführt. Doch der Film war mir fremd. In der Eigendynamik von Hollywood verschwand mein Film hinter der Glasur der Industrie-Stadt. Mit dem Director’s Cut nun hoffte ich mein Märchen, das anlässlich des Zurich Film Festival uraufgeführt wurde, wieder gefunden zu haben.» Redaktionelle Anmerkung: der Dirctor’s Cut ist die Schnittversion eines Spielfilms, mit welcher der Regisseur seine persönliche künstlerische Absicht umsetzt. Den Trailer des Films anschauend, habe ich eine erstaunliche Verknüpfung mit Carl Orffs Äusserungen gehabt, nachdem er Carmina Burana vollendet hatte: «Alles, was ich bisher geschrieben und was Sie leider gedruckt haben, können Sie nun einstampfen. Mit Carmina beginnen meine gesammelten Werke!» Gut möglich, dass Dieter Meier mit seinem Lightmaker auf der Schwelle zu einer neuen Ära stand; einer Ära eines Zeitreisenden, der sich wohltuend von der kolossalen Gewöhnlichkeit, der kolossalen Austauschbarkeit abgrenzt. Kompromisslos.
Von der unausweichlichen Präsenz des wunderbar Grautäglichen.
Oder vom Versuch, dem Stromlinienförmigen auszuweichen.
Ich verlasse den Ort unseres Gesprächs, die CS-Passage am Paradeplatz, begleitet von einem wirren Karussell von Bildern und Worten in meinem Kopf. Bevor ich untergehe in der gleichförmigen Masse, welche die Crème-de-la-Crème von Zürich, die Vertreter der Zünfte, während ihres Defilees der Eitelkeit artig beklatscht, kollidiere ich beinahe mit einem Securitaswächter mit seinem ungebremsten Securitaswächteruniformenstolz. Ich fühle mich hier irgendwie fremd. Ich hänge den letzten Gedanken des Gesprächs nach: Dieter Meier mag vieles sein, aber sicher alles andere als ein bis zur Unkenntlichkeit uniformierter Durchschnittler. Nach und nach begreife ich: In Wirklichkeit ist kein Ich, kein Er, auch nicht das naivste, eine Einheit, sondern eine höchst vielfältige Welt, ein kleiner Sternenhimmel, ein Chaos von Formen, von Stufen und Zuständen, von Erbschaft und Möglichkeit.
Dieter Meier, obschon bereits über 70, scheint noch kein bisschen müde zu sein, in unserer doch so arg strapazierten macdonaldisierten Zeit immer wieder neue, überraschende Möglichkeitsräume zu schaffen. Das stimmt irgendwie zuversichtlich.