Der irische Sänger und Komponist Chris de Burgh gehört in der Musik zu den grossen Geschichtenerzählern. Sein Lied «The Lady in Red» ist ein absoluter Welterfolg. Der Song handelt von einem Paar, das zu einer Party will. Beide sind spät dran. Sie blockiert das Badezimmer für eine kleine Ewigkeit. Er ist genervt. Streit auf der Fahrt. Streit auf der Party. Auf der Party geht jeder seinen eigenen Weg. Dann sieht er, wie seine Partnerin von männlichen Erbschleichern umgarnt wird, und es fällt ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen: Seine Frau sieht in ihrem roten Kleid umwerfend aus. Ihm wird bewusst, dass er sie in letzter Zeit viel zu wenig beachtet hat. Warum dieser Seitenblick auf eine Ballade, die wohl kaum etwas mit der Gestaltung von Räumen zu tun hat? Weit gefehlt. Es ist eine Gabe, die Welt immer wieder neu mit verwunderten Augen zu entdecken. So gesehen hat Ricardo Burkard diesen sensiblen Blick für das Feinmaschige. Für Dinge, die man oft aus lauter Unachtsamkeit übersieht. Frank Joss hat ihn in Baar zu einem Gespräch getroffen. Es kam zur bewegten Begegnung mit der Achtsamkeit.
Ricardo Burkard, vieles badet sich in Ihrem Design im Licht. Sie verwenden ursprüngliche Materialien, verbunden mit einer erdigen, herbstlich anmutenden Farbpalette. Corbusiers Farben, könnte man meinen. Mit dem Spiel des Tageslichts fühlt es sich in fast allen Ihrer Projekte an, als wäre man Teil der Natur. Ist es ein Bekenntnis von Ihnen, das Aussen mit dem Innen fliessend zu einer «Harmonie fantastique» zu verschmelzen?
Danke für die kleine Hommage an meine Art zu arbeiten. Es ist mir sehr wichtig, für Menschen Räume zu schaffen, die ihnen Anmut und Geborgenheit vermitteln. Dies weit über den Zeitraum des Trends hinaus. Das Schreierische liegt mir nicht. Klar setzen wir immer wieder bewusst rotzfreche Farbakzente, die eine kleine, schelmische Zäsur in unser doch sehr auf Harmonie bedachtes Farbkonzept bringen.
Was mir bei Ihrem Design gefällt: das sensible Zusammenspiel von Innen und Aussen. Ein Flow, der sich wohltuend zwischen den beiden Welten hin- und her bewegt.
Wir sind von der Beauté der Natur umgeben, die ohne künstliches Gehabe auskommt. Also machen wir es zu unserer Aufgabe, die schönsten Seiten der Natur bei der Materialisierung nach innen zu holen. Wir verstehen das als kontinuierlichen Dialog zwischen dem Innen und dem Aussen. Unser Material trägt darum auch oft einen lokalen Stempel.
Ihre Raumgestaltung des Privathauses im Val d’Orcia in der Toskana, in drei Begriffen zusammengefasst …
Historie. Toskanischer Stil. Zeitgemäss.
Was war die grösste Herausforderung bei der Gestaltung der Innenräume?
Die eigentlichen Hürden lagen in der Ausführung. Das soll kein salopp hingeworfenes Klischee sein, aber in der Schweiz haben wir in vielen Dingen eine andere, handfestere Beziehung zu Zeit und Qualität. Wenn ein Italiener sagt, er werde dies oder das morgen erledigen, meint er gut und gerne in einer Woche, einem Monat. Morgen ist für ihn relativ. Dann ist da die Kommunikation in zwei verschiedenen Sprachen. Weil wir ja mit unserem Schweizer Büro nicht tagtäglich auf der Baustelle sein konnten, hatte uns ein italienischer Projektleiter vertreten. Das führte zu kleineren sprachlichen Schwierigkeiten, die mit der Zeit jedoch immer mehr in den Hintergrund rückten. Tempi passati. Das Haus wird zu einer gelungenen Huldigung an die einmalige toskanische Lebensweise heranwachsen.
Bei Ihrem St. Moritzer Wohnungsprojekt haben Sie Räume geschaffen, in denen eine nahezu asketische Innenarchitektur, natürliche Materialien und rustikale Elemente in anmutiger Eleganz zusammenfinden. Wohltuend wenig aufgesetzter Alpen-Chic … Sie halten nicht viel von Oberflächenästhetik?
In der Findungsphase war die Bauherrschaft schon ein wenig infiziert vom Begriff «Alpen- Chic». Nach und nach, bedingt durch unsere sensible Herangehensweise ans Projekt, hat sie verstanden, wo sich Alpen-Chic nach vorne bringen lässt und wo angenehme Zurückhaltung gefragt ist. Auf den omnipräsenten Kronleuchter, als Synonym für Alpen-Noblesse, wurde verzichtet. Schliesslich soll der Wohnraum auch genüsslich einladen zum Still-vor-sich-hin-Schwelgen, zum Ausbrechen aus der Alltagshektik. «Reduce to the max» hiess die Zauberformel. Ausserdem haben wir fast ausschliesslich mit Handwerkern aus der Region zusammengearbeitet – ein kleiner Tribut an die Kreislaufwirtschaft. Die gesamte Holzverarbeitung ist in Echtholz gemacht, das aus dem Engadin zusammengetragen wurde.
Wo genau kam das Holz her?
Es stammt von alten Scheunen, deren Holz unser Bündner Schreiner über Jahre hinweg gesammelt und eingelagert hat. Sein Geniestreich: Er fand für uns sechs Meter lange, uralte Balken. Das Beste an der Zusammenarbeit: Der Schreiner kannte die alte Tradition, bei der man Balkenlagen gekonnt mit Wandpartien zusammenfügt.
Auf welches Detail in dieser Privatwohnung sind Sie besonders stolz?
Ganz klar auf den Boden im Bad. Da wurde ein Schiefer verlegt, der so nur im Engadin zu finden ist. Wir haben den Stein teils geschliffen, obschon viele tradierte Handwerker ob dieser Idee die Hände verworfen haben. Wir haben also die Steinplatten komplett flach geschliffen und ihnen im Schnitt einen modernen Touch gegeben. Der Gesamteindruck widerspiegelt überraschenderweise die natürliche Beschaffenheit des Ungeschliffenen. Die Patina zeigt einen leichten Change-Change-Effekt.
Wie Ihre Beispiele zeigen, arbeiten Sie gerne mit Materialien, die Textur und Wärme vermitteln. Woher stammt diese Verbundenheit mit der Natur?
Es ist die Faszination zum Ort des Geschehens. Nehmen wir die Toskana. Ich fühle die Kraft, die vom Val d’Orcia ausgeht. Ich fühle mich hier so wohl, als wäre ich schon immer da gewesen. Diese Verbundenheit inspiriert mich. Ich denke da insbesondere daran, wie sorgsam man bei alten Häusern mit den Materialien umgegangen ist. Stellvertretend nenne ich dafür den erdfarbenen Kalkputz. In der Verarbeitung liegt viel Imperfektion, die schliesslich den Charme toskanischer Wohnräume ausmacht. Dieses historische Vermächtnis versuche ich in allem, was ich unternehme, mit einer guten Portion des modernen Bauens und Gestaltens zu verknüpfen.
In Ihren Objekten liegt viel verborgener Tiefgang. Woher stammt der?
Das kommt von meinem Vater. Nach einer Schreinerlehre hat er in New York Innenarchitektur studiert und dann ein eigenes Büro etabliert. Mein Vater war der Zeit voraus, ihm gefällt das moderne Design. Ich hingegen neige eher dazu, den Blick immer wieder in die Vergangenheit zu werfen.
Hat er durch Ihre Arbeit den Zugang zum Vergangenen wiederentdeckt? Erziehung mal umgekehrt …?
So nach und nach findet er im Mix von Alt und Modern einen gewissen Reiz. Wohlgemerkt, ich kann viel von seinem Wissen profitieren, in jeder Hinsicht.
«Reduce to the max» lautet eine Ihrer Maximen. Wo brechen Sie diese Regel?
Bei privaten Projekten ist mir diese Ruhe wichtig. Sie ist ja oft Balsam für die «geschundene Seele», die immer wieder mit oberflächlichen Fastfood-Beziehungen zu tun hat. Dürfen wir aber die Räume eines Kinos realisieren, darf in der Machart schon mal ein grelles Moment auftauchen.
Sie arbeiten viel mit Holz, auch bei Möbeln. Soll Ihre Klientel den Waldspaziergang zu Hause machen können?
Schön wär’s. Holz bietet viele Optionen. Optionen, die wir im Innenausbau wie auch in der Möblierung einsetzen. Es verbreitet Wärme und Charakter, ausgehend von seinen Strukturen, seiner Farbe. Wabi-sabische Philosophie begleitet uns immer wieder.
Wabi-Sabi?
Das ist ein japanisches Konzept der Wahrnehmung von Schönheit, das eng mit dem Zen-Buddhismus verbunden ist. Nicht die offenkundige Schönheit ist das Höchste, sondern die verhüllte; nicht der unmittelbare Glanz der Sonne, sondern der gebrochene des Mondes, der bemooste Fels, das grasbewachsene Dach, die knorrige Eiche. Das und Ähnliches erzählen von einer stillen Schönheit der Dinge.
Es scheint mir, Sie sind ein Suchender, der bei jedem Projekt nach dem Genius Loci fahndet … Ich denke da insbesondere an jenes Design, das Sie in der Toskana realisieren.
Die Seele des Ortes berührt auch die Seele unserer Arbeit. Der Ort hat in der Regel immer eine bedeutende Biografie. Eine, die wir versuchen in unsere Objekte einfliessen zu lassen. Also müssen wir zuerst diesem Genius Loci auf die Spur kommen. Erst wenn wir ihn dingfest gemacht haben, versuchen wir ihm mit unserer Gestaltung ein Gesicht zu geben. Anders gesagt: Wir suchen nach dem Charisma des Ortes und des Raumes gleichermassen. Es würde keine Gattung machen, hier im Kanton Zug ein typisch toskanisches Haus zu bauen. Teile davon, wie den Kalkputz, darf man aber ohne falsche Bescheidenheit verwenden.
Die Natur hat 2023 auf extrem gemacht: Hitzewellen, Orkane, Überschwemmungen, Bergstürze. Einiges ist in der Natur aus dem Gleichgewicht gefallen. Die Gesellschaft ist dabei auch ein wenig aus den Fugen geraten. Umso wichtiger scheint uns die Suche nach Geborgenheit in unserem Zuhause. Wie viel Anspruch liegt in Ihren Projekten, die Menschen diese Geborgenheit spürbar zu machen?
Viel. Sehr viel. Die Folgen von Corona haben uns in dieser Hinsicht die Augen geöffnet. Als man so viel Zeit zu Hause verbrachte, konnte man die Wirkung, die Räume auf uns haben, hautnah erleben. Von dieser Verhaltensweise hat auch unsere Branche und vor allem jene der Möbelhersteller profitiert. Statistiken liefern dafür handfeste Werte.
Bonbonbunte Farben sowie das Spiel mit Pattern liegen im Trend. In Ihrem Design findet man eher leise Töne, die Luxus in der Wiederentdeckung der edlen Einfachheit widerspiegeln. Woher kommt dieses Schwimmen gegen den Strom?
Das Stromlinienförmige ist nicht unser Ding. Es ist die Formvollendung, die uns bei unserer täglichen Arbeit antreibt. Wir lieben es, aus den Ruinen des Grautäglichen auszubrechen, ohne genau zu wissen, wo der Weg hinführt. Eigentlich sind wir dauernd unterwegs, neue Ufer zu entdecken; und da muss man halt auch mal gegen den Strom schwimmen – ohne Rettungsring.
Woher stammen die Ideen für neue Projekte? Gibt es zuerst eine «Servietten-Skizze», bevor Sie den Computer aufschalten?
Wer denkt, der Computer allein könne uns die Ideen liefern, ist eindeutig auf dem Holzweg. Er kann aber viel dazu beitragen, eine Idee in all ihren ästhetischen Facetten und technischen Anforderungen real werden zu lassen. Der Glaube, der Computer sei ein guter Ersatz für Kreativität, ist in gewissen Designerkreisen schon weit verbreitet. Weit gefehlt. Bei mir spielt sich alles zuerst im Kopfkino ab und mündet in der Frühphase des Projekts einer spontan hingeworfenen «Servietten-Skizze».
Kaum ein Bereich ist so geeignet für das Wechselspiel mit Farben, Formen und Materialien wie das Interior Design. In Ihren Projekten spürt man dieses Spiel, jedoch habe ich das Gefühl, dass Sie mit Farben sehr sorgsam, gar sparsam umgehen …
Gut hingeschaut. Ohne sichtbare Notwendigkeit wird die Farbigkeit in der Architektur neuerdings mit vielen plakativen Effekten inszeniert. Wir Menschen sind in der Lage, auch mit dem ungeschulten Auge Tausende von Farbtönen in der Natur zu unterscheiden. Die Farben der Natur sind vielfältig, subtil und immer harmonisch. Die Farben unserer gebauten Umwelt dagegen sind laut, eindimensional und immer öfter chaotisch. Ich bin für mehr Harmonie und weniger Chaos. Das Spiel von authentischen Materialien – Holz, Stein und Metall – die durch visuelle und haptische Kontraste hervorgehoben werden … Das ist Poesie.
Carte Blanche: Für welche Persönlichkeit – es darf auch eine verstorbene sein – würden Sie gerne Innenräume gestalten?
Für Leonardo da Vinci. Seine Vielseitigkeit in einem Raum zusammenzufassen wäre eine grosse Herausforderung, da er stets sein Zuhause mit der Arbeit verband. Alle seine Facetten als Künstler, Bildhauer, Architekt, Anatom, Mechaniker und Naturphilosoph … Es wäre wahrlich eine Herkulesaufgabe, das Universalgenie Leonardo da Vinci in ein singuläres Raumgefüge zu verpacken. Ihm einen Ort zu geben, in dem alle seine Visionen für die Zukunft zur einmaligen Realität werden können.
Wenn Burkard Design eine Landschaft wäre …?
Das Val d’Orcia. Eine Reise dahin lohnt sich. Cent-pourcent.
… ein Kunstwerk wäre?
Das «Relatum» von Lee Ufan. Die Botschaft seiner Kunst: Keine neuen Dinge sollen geschaffen, sondern vorhandene Dinge aus der Natur – wie Steine, Äste, Erde – genutzt und in Beziehung zu Industriematerialien wie Glas oder Stahl gesetzt werden. Seinen Ansatz haben wir als Teil unserer Unternehmensphilosophie übernommen.
… ein Film wäre?
Dune. Es ist die Szenografie der Architektur, die mich an diesem Film fasziniert. Eine Vielzahl von architektonischen Stilen beeinflusste das Aussehen von Arrakeen, darunter Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg, mesopotamische Zikkurates, ägyptische und aztekische Pyramiden, brasilianische Architektur, Brutalismus und sogar das italienische Designkollektiv Superstudio aus den 1960er- und 1970er Jahren. Dennoch war Vermette fest entschlossen, die Welt von «Dune» so zu gestalten, wie man sie noch nie zuvor gesehen hat, was sich auch in der einzigartigen Farbführung zeigt.
«Dune – der Wüstenplanet» ist ein Abenteuerfilm, ursprünglich aus dem Jahr 1984. Mittlerweile gibt es mehrere Neuverfilmungen, die neueste erschien Ende 2023 unter grossem Furor. Die Handlung spielt im Jahr 10191. Imperator Shaddam IV. ernennt Herzog Leto Atreides zum neuen Statthalter des Wüstenplaneten Arrakis – genannt Dune. Leto soll dafür sorgen, dass die Spice-Produktion, die wertvollste Substanz des Universums, reibungslos verläuft. Doch Baron Harkonnen – Letos heimlicher Konkurrent – schmiedet finstere Rachepläne: Er lässt Leto töten und dessen Lebensgefährtin Jessica und seinen Sohn Paul in der Wüste aussetzen, wo sie die aufständischen Fremen aufnehmen. Und. Und. Und.
Doch bleiben wir beim Naheliegenden: beim roten Kleid von Chris de Burgh. Oder bei einer Eigenschaft, die wir alle ein wenig wiederentdecken sollten: der Achtsamkeit. Schön zu sehen, wie in Ricardo Burkards Arbeiten Achtsamkeit spürbar gemacht wird.