Mit Santiago Calatrava ist es wie mit dem Glück. Meint man es zu haben, ist es schon entwischt. Ein Versuch, ihn festzuhalten, ist zum Scheitern verurteilt. Denn kaum glaubt man zu wissen, wie er als Mensch oder Architekt funktioniert, ist alles wieder ganz anders. Er bleibt unfassbar. Unfassbar gut, weil er uns auch mit Poesie und grosser spiritueller Tiefe umfasst. Den Unergründlichen haben wir in seinem Zürcher Büro zu einem Gespräch getroffen.
Frank Joss: Wenn ich von Ihnen lese oder einen Film schaue, dann kommt mir immer der Begriff Demut in den Sinn. Wann sind Sie in Ihrer Lebensschule der Demut begegnet?
Santiago Calatrava: Jedes Mal wenn man vor einem weissen Blatt sitzt, empfindet man eine enorme Leere. Ich muss etwas schaffen, das es vorher nicht gegeben hat. Und entweder entsteht dann eine schöne Zeichnung oder ich muss wieder von vorne beginnen. Mein Beruf ist also ein ständiges «Sich-selbst-in-Frage-stellen». Deswegen ist es ein Gefühl vom stetigen Neuanfang. Ein Gefühl, dass man sich selbst immer wieder neu begegnet, an einem Ort, an dem man noch nie war. Und wenn ich die Arbeiten anderer anschaue, ich denke da an Maler oder Bildhauer, empfinde ich nicht nur eine gewisse Bewunderung, ich sehe mich auch selbst kritischer. Weil diese Künstler der Massstab sind. Manchen erscheint das unerwartet, weil sie mich für eine Art Held halten, der von Vornherein alles ganz genau weiss. Aber in Wirklichkeit entsteht mein Weg entsteht beim Laufen, «camino al andar».
Es gibt ja so viele «Fallschirm-Objekte» in der Architektur. Da kommt irgendein Architekt und lässt ein Objekt nach seinem Gusto auf die Stadt «herunterfallen» – und die Stadt muss dann dieses Objekt annehmen. Oder nicht?
Darüber wurde schon ganz viel geschrieben. Die Begegnung an einem Ort, sich mit den Leuten auseinandersetzen, sich prägen zu lassen von diesem Ort, ist ein wichtiges Element in der Architektur und auch für mich als Ingenieur. Ich habe mal eine Brücke für Buenos Aires entworfen, während ich Tangomusik gehört habe. Es klingt banal, aber wissen Sie, es gibt gewisse Dinge wie die Musik, die wir dann ins Reale umsetzen können. Seltsamerweise haben dann auch Leute gesagt, dass die Brücke einer Figur aus dem Tango ähnelt. Wie der Mann die Frau hält und sie fast nach hinten fällt. Die Architektur bleibt natürlich eine abstrakte Sache, aber es hat schon sehr viel mit der jeweiligen Umgebung, mit deren Leuten und deren Kultur zu tun.
Ich glaube, Sie haben die Fähigkeit, gewisse Dinge im Leben noch immer mit den Augen eines verwunderten Kindes zu sehen…
Vor vielen Jahren, das war immer noch in der Ära von Jelzin, machte ich eine Architektur-Ausstellung in Moskau. Das war in einem sehr schönen Haus. Die Ausstellung war eine einfache. Da haben wir die Modelle auf Kisten ausgestellt, so 70 oder 80 an der Zahl. Ich hatte einen Dolmetscher dabei. Dann kam eine Dame, wandte sich mir zu und sagte etwas auf Russisch. Und ich drehe mich zum Dolmetschter um. «Sie haben wohl eine sehr glückliche Kindheit gehabt», sagte die Dame.
Ich finde, dass die Architektur in all ihren Facetten in den Skizzen eine gewisse Heiterkeit, eine gewisse Freude, einen gewissen Glauben an die Zukunft ausstrahlen muss. Auch weil diese Bauten uns überleben, als Zeuge einer Zeit, aber auch als Träger einer Botschaft.
Das Thema dieser Ausgabe unseres Magazins lautet ja «Auf der Suche nach Formvollendung». Wie erreichen Sie bei Ihrer Arbeit die Formvollendung?
Seit dem ersten Tag habe ich immer mit Skulpturen und Plastik gearbeitet. Dort ist man sehr frei, Sie haben keine Sachzwänge – ausser dem Material, mit dem Sie arbeiten. Ich habe auch sehr viel von meinem Vokabular aus meinem Ingenieurstudium gezogen: Wie man Sachen baut, wie Stahl sich verhält, wie Beton sich verhält, wie Holz sich verhält. Man hat eine gewisse Beherrschung der Materialien als Mittel. Die Synthesis von beiden Dingen ist das architektonische Werk.
Ich habe viele Sachen gemacht, wie Brücken oder Bahnhöfe, die sich bescheiden in den Alltag einfügen und den Menschen gehören. Die aber von Millionen von Menschen jeden Tag durchquert werden. Wenn einer von New Jersey nach New York zur Arbeit fährt, sind es nur fünf Minuten, die er im Bahnhof verbringt, aber diesem Menschen will ich sagen: Dieser Ort, der wurde für dich gemacht.
Wenn ich Ihre Skizzenbücher anschaue, ist die Absicht klar, was das Objekt aussagen will. Aber wenn man länger hinschaut, hat es so viel Wechselhaftes in diesen Skizzen, das es noch zu entdecken gilt. Überlassen Sie es dem Betrachter Ihrer Skizzen, wie er diese fertig denkt?
Das Wort Skizze hat an sich schon etwas Unvollendetes. Die unvollendete Form ist auch eine Ressource, die auch in der Kunst gebraucht wird. Denken Sie an die Sklaven von Michelangelo. Die Skizze hat diese Qualität des Unvollendeten, aber es hat auch das Repetitive. Man macht also eine Skizze auf einem Blatt, dann die nächste auf einem anderen Blatt – mit ganz wenigen Abweichungen. Wenn ich das dann meinen Mitarbeitern zeige, dann ich übergebe eine Emotion. Wenn ich nun also jemandem meine Skizze gebe, etwas Unvollendetes, projiziert wiederum auch dieser etwas in die Skizze hinein. Das Skizzieren findet also bis zum Ende des Prozesses statt. Ich mache meine Skizzen übrigens immer auf gutem Papier, mit Wasserfarben oder sonstigen Farben.
Architektur ist ja immer eine Form von Botschaft, die Sie mit einem Werk in die Öffentlichkeit tragen. Was ist die stärkste Botschaft, die Sie dem Betrachter übermitteln wollen?
Ihre Frage führt mich zu zwei Punkten. Erstens: Kann man mit Architektur eine Botschaft übermitteln? Das Zweite: Was will man sagen?
Zum ersten Punkt: Zweifelsohne, es ist wie beim Schriftsteller. Und dazu gibt es Mittel, wie beim Projekt bei Ground Zero. Dieses ist nicht parallel zum Strassennetz der Stadt gebaut, sondern leicht schräg. Das Gebäude hat ja oben eine Spalte, die sich zweimal im Jahr öffnet. Dann sehen Sie den Himmel über New York. Die Sonne strahlt herein und kreiert einen Lichtweg am Boden des Gebäudes, von der einen Seite zur andern. Um 9:28 Uhr morgens, zweimal im Jahr, am 29. März und am 11. September. Es braucht keine Worte, aber die Geschichte ist geschrieben. Es gibt also ein Vokabular in der Architektur.
Ein anderes Beispiel in Zürich: Das Niederdorf folgt der Richtung der Limmat und das Grossmünster ist im Verhältnis zum Rest aber schräg gebaut. Und wohin schaut das Grossmünster? Richtung Osten, also Richtung Sonnenaufgang. Das heisst, dort hat es in der römischen Zeit Christen gegeben. Denn zu dieser Zeit wurden die Kirchen so gebaut, dass sie einen kosmischen Bezug hatten. So ist heute also eine ganze Stadt in andere Richtung gebaut und die Kirche steht dazu schief. Oder eben nicht schief, denn sie trägt eine Botschaft in sich. Wir haben das heute ein wenig verloren, nicht zuletzt wegen dem Rationalismus, aber auch wegen dem Funktionalismus. Die Nachkriegszeit hat uns eine Architektur beschert, die viel zu wenig Bezug hat zur Natur oder zum Kosmos. Man baut ein Einfamilienhaus und dann wiederholt man es wieder und wieder.
Woher kommt dieses Fantasielosigkeit? Woher kommt es, dass man beim Andern abschaut, ohne sich zu fragen, wieso er so baut?
Bei Ihrer Frage kommt mir die USA in den Sinn: Die Amerikaner haben einen Sinn für Community. Eine Community bedeutet für den Amerikaner viel mehr als für den Europäer. Der Europäer würde sagen: «Ein Museum? Das baut die Stadt. Eine Schule? Das baut die Stadt. Eine Universität? Das baut die Stadt.» Die Amerikaner denken nicht so. Das hat hat zur Folge, dass sie eher den Sinn für Civic Monumente haben. Die George Washington Bridge ist beispielsweise ein Civic Monument. Dieses Gefühl hatten auch die Leute, die das Grossmünster gebaut haben. Sie haben angefangen zu bauen, aber sie wussten, dass sie es nicht erleben werden, wenn das Gebäude fertiggestellt ist, aber ihre Ururgrossenkel. Es geht bei der Architektur nicht nur um die Firmitas im Sinne der Stabilität, sondern auch im Sinne der Perennitas, der Beständigkeit.
Bleiben wir bei Amerika: Der Architekt Frank Lloyd Wright ist auf die Strasse gegangen und fragte die Leute, was sie gebaut haben möchten, damit sie sich wohlfühlen, damit sie glücklich sind.
Frank Lloyd Wright wollte eine Art von amerikanische Epos schreiben, einen Stil finden, der den Amerikanern entspricht. Falling Water ist beispielsweise eines der schönstes Häuser, die je gebaut wurden. Es erinnert mich an Claude Monet, wenn man vor diesem Haus steht. Jeder Pinselstrich ist wie eine Musiknote, die sich sodann zu einer Komposition zusammenfügt.
Ist den jüngeren Architekten die Lust verloren gegangen?
Leute wie Frank Lloyd Wright denken, Architektur ist Kunst. In der Architekturschule wird – auch heute ist es noch so – der Begriff Architektur nicht als Kunst vermittelt. Punkt. Das führt zu zwei Fragen? Ist die Architektur wirklich Kunst? Und was vermitteln denn diese Schulen? Die guten Schulen vermitteln eine gewisse Berufskenntnis. Nach vier oder fünf Jahren kann man ein Fenster korrekt zeichnen. Das ist schon sehr viel. Man kann nicht zusätzlich noch Künstler ausbilden. Aber ob die Architektur nun Kunst ist oder nicht, das ist sehr einfach herauszufinden. Kaufen Sie sich eine Enzyklopädie der Kunst und darin hat es ein Kapitel über die Architektur. Wenn Sie eine unschönes oder ein monotones Gebäude bauen, verpassen Sie die Gelegenheit, ein Kunstwerk zu schaffen.
Müsste man in einer gewissen Hinsicht, die Schulen, die Architektur vermitteln, entschulen?
Wir haben über Frank Lloyd Wright gesprochen. Er ging an die Ingenieurschule, dann ging er zu Sullivan und lernte dort den Beruf. Dasselbe war bei Ludwig Mies van der Rohe. Van der Rohe machte eine Ausbildung als Zeichner, dann hat er mit Peter Behrens gearbeitet, dann ist er später zu dem Ludwig Mies van der Rohe geworden, den wir heute kennen. Dasselbe bei Le Corbusier: Er war Graveur, Uhrenmacher. Damit will ich sagen: Eine gute Schule ist diejenige, die eine Einführung in den Beruf gibt. Damit man weiss, wie man zeichnet, wie man die Grundrisse macht, wie die Perspektive funktioniert. Den Rest muss man selber weiterentwickeln.
Die Chinesen sagen: Eine Begegnung mit einem weisen Mann bringt mehr als 100 Stunden Studium. Das heisst, der Schule zu begegnen, den Leuten, die das Licht gesehen haben und es weitergeben, ist sehr wichtig. Bei der Colombia University, auf der auch alle meine Kinder waren, heisst es auch: In Lumine Tuo Videbimus Lumen. Also: In deinem Licht werden wir Licht sehen.
Sie sind kein Würfler. Und trotzdem gelingt es Ihnen, dass es in allem, was Sie machen, so viel Sinnliches oder sogar Übersinnliches zu entdecken gibt. Und das würde man ja eher dem Spieler zuordnen. Was ist Ihr Geheimnis, das zu dieser Art von Sinnlichkeit führt?
Auguste Rodin sagte: « l’art n’est que sentiment». Es dreht sich also alles ums Gefühl. Es ist nicht eine trockene oder sachliche Angelegenheit, eine Brücke zu zeichnen. Obwohl eine Brücke auch sachlich und technisch ist mit Schwingungen, Stabilität, Kosten, Bauvorgänge…. Aber man muss immer mit Gefühl arbeiten.
Architektur ist ja für Sie eine synästhetische Erfahrung. Können Sie Architektur hören?
Es gab einen amerikanischen Architekten namens Louis Kahn, der sagte: «Wenn man mit einem Ziegelstein spricht und ihn fragt, was er sein will, wird er sagen: ein Bogen.» Die Backsteine sprechen also, aber sehr leise (lacht laut).
Was in der Architektur sehr schön zu hören ist, sind die eigenen Schritte. Guillaume Apollinaire, von dem auch die berühmten Kalligramme stammen, sprach von den Schritten, die in der Kirche widerhallen. Oft verbindet man nur Licht mit Raum, aber man muss auch den Ton mit dem Raum verknüpfen. Das ist sehr wichtig. Man kann also die Architektur auf eine bestimmte Art auch hören.
Wenn Ihr Creek Tower eine Musik wäre, welche wäre es?
Der dritte Satz der zweiten Symphonie von Rachmaninow, also das Adagio. Denn dieses Stück ist so sehr mit Leidenschaft verbunden, ein Gefühl der Nostalgie. Und das Zweite: Das Finale der zweiten Symphonie von Gustav Mahler.
Sehen Sie, dieser Turm in Dubai ist nicht eine Frage der Fülle, es ist eine Frage der Transparenz. Wenn man ihn nun mit dem Burj Khalifa vergleicht: Burj Khalifa ist zwar auch ein sehr schönes Statement aber es ist in sich selber geschlossen. Der neue Turm mit den Netzen wirkt viel atmosphärischer. Es gibt viel mehr Lichtqualität, die Sonnenuntergänge in Dubai kommen besser zur Geltung.
Wieso habe ich also diese zwei Stücke gewählt? Das eine ist sehr nostalgisch, sehr atmosphärisch, ein Gefühl der Sehnsucht, der Wiederkehr entsteht, man sieht förmlich diese russischen Landschaften… Und so soll auch dieser Turm sein. Auf der anderen Seite gefällt mir diese Auferstehung des zweiten Stücks, es ist voller Hoffnung.
Sie haben mit Gustav Mahler die Analogie zur Hoffnung gemacht. Nun zu Ihrem Gebäude bei Ground Zero – die Wiedererstehung der Hoffnung – was wäre das für eine Musik?
Eine gute Frage. Denn es gibt etwas in der Architektur, das sehr nahe an der Musik ist.
Man sagt, die Extreme berühren sich. Zum Beispiel Liebe und Hass. Dunkelheit und Licht. Bei der Architektur ist alles materiell und bleibt bestehen. Musik ist aber immateriell. Ein Klang und dann ist sie verschwunden. Die Musik geschieht jetzt, in diesem Moment. Die Musik und die Architektur haben aber doch sehr vieles gemeinsam. Das habe ich auch selbst erlebt. Peter Baumann, der Architekt, hat mir ein Ticket geschenkt, um das israelische philharmonische Orchester, dirigiert von Zubin Mehta, zu hören. Der sechste Satz der dritten Symphonie von Mahler hört nie auf (fängt an zu singen). Ein Tag danach, zwei Tage danach, eine Woche danach…die Musik war noch immer in meinen Ohren. Das ist genau dasselbe wie bei der Architektur. Sie gehen in ein Gebäude, sie betrachten ein Gebäude, sie lassen sich von diesem Gebäude prägen und es bleibt an Ihnen hängen – auch wenn das Gebäude nicht mehr da ist. Aber die Sensation, der Teil von uns, der berührt wird, ist der gleiche wie bei der Musik.
Und nun zur Musik für Ground Zero?
Die achte Symphonie von Mahler – auch Symphonie der Tausend genannt. Da geht es ebenfalls um Auferstehung, ein Lob an Gott. Ich wollte dort bei Ground Zero eine kleine Kirche bauen, etwas Sakrales.
Kann es sein, dass Sie Ihr Meisterwerk noch gar nicht gebaut haben?
Es muss so sein, das ist jetzt keine falsche Ambition. Es gibt immer noch Dinge, die gesagt werden müssen. De Goya ist in Bordeaux gestorben und er war taub, ganz taub. Ich möchte zwei Bemerkungen machen. Erstens: Er ging nach Paris, um die Lithografie zu erlernen. Können Sie sich das vorstellen? Er hat all diese Bilder und Grafiken gemacht, aber er will trotzdem noch die Lithografie erlernen. Und es entstand diese schöne Lithografie von ihm «los toros de burdeos». Die zweite Sache: Er machte eine Reihe Zeichnungen, die er auf der Strasse gemalt hat. Und auf einer sieht man einen alten Mann, der sich auf zwei Stöcken hält und darunter schrieb er «Todavia aprendo», ich lerne noch immer.