Das Haus zum Falken. Es ist schwierig, der Architektursprache von Calatrava gerecht zu werden. Versuch einer Erklärung.
Auf dem Areal der „Café-Diva“ Mandarin entsteht ein neues Projekt, gestaltet von Calatrava. Eine Architektur, die ausbricht aus den Ruinen des Austauschbaren. Unlängst hat er für New York mit dem Ground Zero Transportation Hub ein Objekt realisiert, das in seiner feinmaschigen architektonischen Botschaft Hoffnung verbreitet. Jene, dass selbst in unserer von Gewalt und Ratlosigkeit arg strapazierten Welt das Gute immer seinen Platz finden wird.
Nun wird der Stadelhoferplatz mit dem Haus zum Falken ein zweites Calatrava-Habitat bekommen, das durch eine hohe ästhetische Anmutung besticht. Der neu interpretierte öffentliche Raum wird zum genüsslichen Verweilen verführen. Anders als in der aktuellen Gegebenheit wird die Fläche des Erdgeschosses in dem polygonalen Bau zurückgefahren, derweil die vier Obergeschosse kontinuierlich weiter über das Parterre hinausragen. Damit wird die Passage zum Bahnhof freigespielt und die grossen Pendlerströme werden staufrei bewältigt. Mehr noch, und die Radfahrer wird’s freuen: Im Untergeschoss gibt es Raum für 1000 Vehikel. In einer unbefangenen Betrachtung könnte das Ensemble Bahnhof und Haus zum Falken in seiner Formensprache einer Szenografie von Christoph Marthaler und Anna Viebrock entsprungen sein. Eine, die wie die Achte von Gustav Mahler daherwuchtet, integriert in eine Bühnenarchitektur, die zum lustvollen Hinschauen verführt. Mahler ist eine gute Brücke zu Santiago Calatrava: Wären er und seine Arbeit Musik, dann eben Gustav Mahler. Seine Gedanken dazu:
„Mahlers Werk ist geprägt vom Gegensatz zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen irdisch-sinnlicher und geistig-übersinnlicher Welt. Mit Stilbrüchen und ironischen Anspielungen schlug er die Brücke vom 19. ins 20. Jahrhundert. Mahlers zehn Symphonien und Liederzyklen berühren auch heute noch. Doch es kamen auch immer wieder Kritiken gegen Mahlers Symphonik. Kein zweites Werk illustriert so eindringlich wie seine „Symphonie der Tausend“, die Achte, die mit ihrem unterschwelligen Bombast und ihren Personalanforderungen daherkommt: acht Gesangssolisten, vier Chöre begleitet von einem gigantischen 1000-Musiker-Orchester. Die Nachwelt tut sich wahrlich schwer mit der Achten, ausgerechnet jenem Werk, das Gustav Mahler selbst für sein wichtigstes hielt. In seiner Musik finde ich ein wohltuendes Wechselspiel von Ruhe und Geborgenheit, von Kraft und Empörung; vielleicht auch eine Verwandtschaft, eine Nähe zu meiner Biografie als Maler, Bildhauer und Architekt.“
Zurück zum Bahnhof Stadelhofen. In Fachkreisen ist bereits ein Diskurs entbrannt, ob das Projekt eine passende Fortsetzung der Bahnhofsarchitektur sei, die vor rund 30 Jahren auch unter der Ägide von Santiago Calatrava entstanden ist. Die Frage sei erlaubt, ob es denn immer eine Ton-in-Ton-Architektur sein müsse. Oder ist es gerade eine klar formulierte Zäsur, die dem urbanen Gefüge das gewisse Etwas gibt? Oft ist es der Charme des Unzeitgemässen, das uns innehalten lässt, vor dem wir mit den verwunderten Augen eines sechsjährigen Kindes wie angewurzelt stehen bleiben.
Dem allgemeinen Ruf der selbsternannten Vorsteher des guten Geschmacks nach massstäblicher Gerechtigkeit muss nicht immer Rechnung getragen werden. Schliesslich erzählen das Ebenmässige, das Stromlinienförmige vieler zeitgenössischer Bauten von purer Monotonie, vom zwanghaften Streben nach der uns in vielen Lebenslagen umgarnenden McDonaldisierung. Ende der sechziger Jahre war in der Architektur ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Zusammenhalt festzustellen, was auch die Formensprache vieler Gebäude veränderte. Das Luftige, mitunter auch Heitere, das Unbeschwerte der fünfziger Jahre ist aus den Skizzenblöcken der Architekten verschwunden. Leichtigkeit musste kompakt-kantigen Bauten aus Beton, Stahl und Glas weichen. Aber heute wissen wir: Der Eindruck urbaner Verbundenheit ist damit nicht geschaffen worden. Darum noch mal nachgefragt: Kann nur im Angleichen und Verbinden architektonische Harmonie gefunden werden? Oder ist es nicht einfach so, dass uns Architektur berühren und mit uns einen Dialog führen muss, damit wir uns mit ihr verbinden?
Wie auch immer, Zürcher Fachkreise diskutieren seit geraumer Zeit über die Sinnhaftigkeit des Calatrava’schen Projekts am Stadelhoferplatz. Wohlgemerkt, es gibt mehr Befürworter als Gegner. Doch eigentlich sollten wir uns darüber freuen, was der Stadt Zürich mit diesem Bau geschenkt wird: ein eindrückliches Statement einer Architektur, die weit über das kleinteilige Denken unserer Zeit hinausragt. Denn gut hingeschaut: Irgendwie umfliesst das Projekt ein Fluidum aus Raum und Zeit. Es gibt dem Betrachter ein erhabenes Gefühl von Entschleunigung. Es ist, als könnte man auf dem Platz wieder frei atmen, die Entourage mit andere Augen sehen: Sichtbar wird das Skulpturale, das Künstlerische, das von der Fassade ausgestrahlt wird. Neue spannende Sichtachsen öffnen sich und die Kubatur verständigt sich wohltuend mit den Quartierkanten. Das ist doch die freie Sicht aufs Mittelmeer, die wir alle so sehnsüchtig suchen. Spätestens hier wird unser Verständnis von urbaner Gestaltung um diesen Gedanken bereichert: „In Wirklichkeit ist kein Ich, auch nicht das naivste, eine Einheit, sondern eine höchst vielfältige Welt, ein kleiner Sternenhimmel, ein Chaos von Formen, von Stufen und Zuständen, von Erbschaft und Möglichkeiten.“
Ernst Schaufelberger, Head AXA Investment Managers Schweiz AG, sieht im Projekt noch ganz praktische, für die breite Öffentlichkeit gewinnbringende Eigenschaften: „Aktuell ist der Zugang zu den Perrons und zur Bahnhofspassage nicht ideal erschlossen. Das Projekt sieht hier eine klare Verbesserung vor, was den Bahnhof Stadelhofen entlasten und aufwerten wird. Die Fassade des Haus zum Falken wird in der neu ausgerichteten Situation zurückgenommen. So entsteht zwischen Bahnhof und Neubau eine urbane Grandezza und der Engpass rund um den Falkensteg wird spürbar entlastet. Das Projekt sieht auch vor, für 1000 Fahrräder einen gedeckten ,Parkplatz‘ anzulegen. Im Erdgeschoss und im ersten Obergeschoss wird auf einer Fläche von rund 750 Quadratmetern eine publikumsfreundliche Nutzung angestrebt, die Rücksicht nimmt auf die Bedürfnisse des Quartiers. Auch liegt AXA Winterthur viel daran, im Neubau einen gastronomischen Betrieb anzulegen. Das zweite Obergeschoss bietet auf 1800 Quadratmetern Platz für Dienstleister verschiedener Couleur. Und wir sind überzeugt, dass Santiago Calatrava mit seinem untrüglichen Sinn für das Aufspüren des Genius loci – der Seele des Ortes – für den Stadelhoferplatz ein Erscheinungsbild mit klaren Konturen schaffen wird.“
Der New Yorker Ground Zero Transportation Hub als ein Œuvre an die Menschlichkeit
Von Santiago Calatrava wollten wir auch wissen, welche Kraft ihn Tag für Tag inspirierend antreibt, welche inneren Vorstellungsbilder ihn beim Projekt Ground Zero Transportation Hub begleitet haben.
„Ich bin von Gebäuden angetan, die auch immaterielle Qualitäten zum Ausdruck bringen. Ich denke da an die benediktinische Abteikirche von Sainte-Marie-Madeleine im französischen Vézelay. Für mich ist die Abtei eines der bedeutendsten Meisterwerke des Mittelalters und ein gutes Beispiel dafür, wie die Kraft der Architektur durch den Einsatz von natürlichem Licht zu einem Gefühl der Erhabenheit führt. Eines der grossartigsten Merkmale der Abtei ist, dass während der Sommerwende, wenn die Sonne direkt über den Oberlichtern steht, ihre Strahlen in der Mitte, entlang der Längsachse des Kirchenschiffs, eine Lichtbahn beschreiben. Dieses Schauspiel der Natur stand mir Pate bei der Annäherung an eine spirituelle Botschaft, die vom Oculus, dem Transportations Hub am Groud Zero, ausgehen sollte, nämlich: Am 11. September eines jeden Jahres öffnet sich das Oberlicht der Oculus-Halle zwischen 08.46 Uhr und 10.28 Uhr morgens , gänzlich unabhängig von den Wetterbedingungen, und erinnert auf stille Art an jene Menschen, die an diesem Tag unsagbares Leid erlitten haben. Es war mein Wunsch und meine Absicht, ein Stück New Yorker Himmel zu zeigen, der wechselwirkend ein Gefühl der Verletzlichkeit als auch ein immerwährendes der Hoffnung symbolisiert.“
Die Spuren seiner Art, über seine Arbeit und sein Leben nachzudenken, führen zu Spinoza. Spinoza führt in feinmechanischer, ja fast geometrischer Sprachform an das Thema Ethik heran, jenes Thema, das in allen Werken von Santiago Calatrava zu entdecken ist. Wen wundert’s, der Auch-Ingenieur Calatrava lässt grüssen:
„Spinozas Werk Die Ethik markiert einen Bruch in der Phi¬lo¬so¬phie¬ge¬schich¬te. Beeinflusst von René Descartes und dessen quasi ma¬the¬ma¬ti¬scher Methode der Wahr-heits¬su¬che geht es Spinoza vor allem um die sittliche Voll¬kom¬men¬heit des Menschen, um das tugendhafte Leben – daher der Titel. Aber auch Fragen nach Gott, der Natur, der mensch¬li¬chen Vernunft und den Lei¬den¬schaf¬ten sowie der mensch¬li¬chen Freiheit werden an¬ge¬schnit¬ten; Die Ethik ist also auch ein Werk der Metaphysik, Kosmologie und Psychologie.“
Das lassen wir so stehen, schlagen keine ideelle Passerelle zu Santiago Calatrava. Und hier schliesst sich der Kreis, der Versuch, Calatravas Architektursprache gerecht zu werden. Viele Worte und Gedanken greifen zu kurz, um zu verstehen, was seine Architektur uns sagen will. Jedoch sicher ist: Mit seiner Architektur können wir die eigene Erdenschwere ein wenig hinter uns lassen.
Und das tut gut.