Es war nicht «Homme et femme», diese ans Gefühl appellierende, aber Gefahr signalisierende Bronze-Plastik, mit der Alberto Giacometti in der avantgardistischen Pariser Künstlerszene am meisten auffiel. Mehr Aufmerksamkeit erregte sein Objekt «Boule suspendue», ausgestellt 1930 in der Galerie Pierre, wo Salvador Dalí und André Bréton, der Vordenker der Surrealisten, es entdeckten – und seiner symbolischen Kraft verfielen. Aufs Wesentliche reduziert in der Form, zurückhaltend im Material und widersprüchlich in der Aussage deuten beide Bewegung an: starr und frei in der Leere die eine, mobil, aber gefangen im Raum die andere. Es sind Skulpturen, die ihre Betrachter an Illusionen binden und doch die Freiheit geben, um das Unbewusste an eigene Erfahrungen zu knüpfen. Vor allem aber ist es die Leichtigkeit, mit der Giacometti die Unbeweglichkeit seiner Figuren auflöst, um ihre fokussierte Einfachheit für individuelle Vorstellungswelten zu öffnen. So erkennt Dalí in der Gegensätzlichkeit und Mehrdeutigkeit der «schwebenden Kugel» seine eigenen Ideale, das Gedankengut, das er im Konzept der «paranoisch-kritischen Methode» beschreibt und das zugleich den Inhalten von Brétons «surrealistischem Manuskript» entspricht. Gute Gründe also, den Schweizer Bildhauer spontan in den Freundeskreis der Surrealisten aufzunehmen. Was verbindet die beiden «Jahrhundertkünstler», deren Werke so eindrücklich in Erinnerung bleiben? Und was begründet ihre Freundschaft, die sich im Laufe ihrer dreijährigen Zusammenarbeit noch intensiviert?
Oberflächlich betrachtet könnten sie kaum gegensätzlicher sein: Hier der exzentrische, selbstverliebte, immer wieder provozierende Spanier, der das Übernatürliche, Fremde, Unbewusste mit technischer Raffinesse so unbekümmert um Normen ins Bild setzt. Dort der bodenständige, humorvolle, stets bescheiden bleibende Schweizer, der das Zeichnen und Malen zum vorbereitenden Akt erklärt, den er braucht, um die perfekte Form zu finden. Doch der erste Blick trügt. Nur die Kindheit der Künstler, deren Talent gleich früh entdeckt und gefördert wurde, verläuft unterschiedlich. Der zweite Blick, dem sich das Kunsthaus Zürich mit der Ausstellung «Giacometti – Dalí. Traumgärten» noch bis zum 2. Juli widmet, geht tiefer. Er geht ins Detail und tief in ihre Skizzenbücher, die verraten, wie intensiv die beiden von 1930 bis 1933 kooperiert, sich gegenseitig ergänzt und beflügelt haben. So entdeckt man in Giacomettis «Carnet» die drei für die Adelsfamilie der de Noailles entworfenen Skulpturen, die dem kubistisch-kühlen Garten ihrer Sommerresidenz in Hyères auf sanfte und doch eindringliche Art einen Hauch Gefühl vermitteln. Sie entscheiden sich für die überlebensgrosse «Figur in einem Garten», deren quadratischer Kopf das Rationale und der abwartend zurückgebeugte Körper das Emotionale zum Ausdruck bringt.
Gemeinsam mit Dalí entwickelt er das «Projet pour une place» weiter. Auf allem, was sich beschriften lässt, tauschen sie ihre Ideen aus, kopieren und befruchten sich gegenseitig. Auf vergilbtem Papier ist in Bleistift, Tusche oder Tinte festgehalten, wie sich Giacomettis abstrakte Figuren unter Dalís Einfluss allmählich verwandeln, wobei die Analogie zu Dalís früheren Werken unverkennbar ist: Den abstrakten Kuben, Zylindern, Kugeln und Stelen verleiht dieser eine Art organische Hülle, die dem Ensemble eine eigenwillige Sanftheit verleiht. Seine rätselhaft verzückte «La mémoire de la femme-enfant» übernimmt er ins Liegen, wodurch das gemeinsame Projekt endgültig zu einem «Parc d’attraction» mutiert, dessen Elemente sich im wahrsten Sinn des Wortes begehen, besetzen und beliegen lassen. Ein Traumgarten, der Giacomettis funktionalen Wünschen und Dalís absonderlicher Fantasie entspricht. Dass einer die Ideen des anderen nachahmt und dessen Gedankengänge fortsetzt, zeigt sich auch in späteren Arbeiten. So erinnert etwa das rekonstruierte «Mannequin», das Giacometti für die Surrealisten-Ausstellung von 1933 entwarf, mit ihrer ausladenden Gestik, den langen, dünnen Beinen und dem Wirbelkasten eines Cellos als Kopf verblüffend an Dalís «Femme à tête de roses». Und doch trägt die Frauenfigur aus Gips ganz Giacomettis Handschrift: Mit Armen, die den Raum zu umfassen scheinen, strahlt ihre komprimierte Form moderne Eleganz aus. Während Giacometti dem Prinzip der Verdichtung folgt, um Perfektion zu erreichen, verdrängt, verschiebt und ersetzt Dalí die Erinnerungsspuren, die ihn verfolgen. Fasziniert von Sigmund Freuds psychoanalytischer «Traumdeutung», die ihm seine imaginären Begierden und verborgenen Ängste erklärt, überträgt er die Vieldeutigkeit des Unbewussten in seine eigene, symbolische Bildsprache. So wird etwa die sinnliche Frauenbüste der entrückt wirkenden Kindfrau von lüsternen Voyeuren dominiert, am Himmel schweben zähnefletschende Löwen und am Boden tauchen Symbole auf, die das Irrationale, Unwirkliche und Übernatürliche prägnant in Szene setzen. So wirkt das imaginäre Geschehen seiner Traumwelt wie ein Screenshot der Skurrilitäten und Obszönitäten in seinen Bildern weiter. Ähnlich verstörend wirkt Giacomettis «Main prise» von 1932, die mehr real als surreal das Vordringen der Technik in den Alltag und damit verbundene Ängste thematisiert.
Mit Dalís verborgenen Neigungen kommt nochmals die Kindheit der ungleichen Weggefährten zum Tragen. Er, der zeitlebens unter dem frühen Tod der Mutter, der strengen Erziehung des Vaters und der bigotten Moral der damaligen Zeit leidet, drückt die stille Sehnsucht nach der heilen Welt im Blau von Meer und Himmel und dem sandigen Beige der Strände des heimatlichen Cadaqués aus, die sich in den surrealen Bildern wiederholen. Dagegen schöpft Giacometti Kraft aus der Künstlerdynastie, in die er hineingeboren wurde: Unter dem wohlwollenden Blick des Vaters lernt er das Zeichnen und Malen, aber auch das Pflichtbewusstsein, während die Mutter ihm Zärtlichkeit und Geborgenheit gibt. In der Eintönigkeit des Tals im Bergell lernt er den detail- und massstabsgetreuen Blick auf die Objekte der Natur. Auch wenn sich die Kindheitserlebnisse und Träume der beiden auf ganz unterschiedliche Art und Weise in ihrer Kunst niederschlagen, verbindet den «Meister des Blicks» noch viel mehr mit dem «Meister der Symbole»: das Interesse für angrenzende Wissenschaften, die ständige Suche nach Inspiration und auch die obsessive Art, neuen Erkenntnissen Form und Farbe zu verleihen. Und beide hinterlassen uns einen Schatz an traumhaften Kunstwerken – nicht nur aus ihrer surrealistischen Sturm- und Drangzeit.