Wenn Corona ein Bild wäre, dann eines aus der Serie «Grief» des niederländischen Fotografen Erwin Olaf. Wir hingen dem Gedanken nach, ob es manchmal einfacher ist, einem Lebensweg zu folgen, für den man seine eigene Realität konstruiert. Genau das haben wir gemacht und wollten von Erwin Olaf wissen, wie unsere Welt post Corona aussehen wird. Wir haben ihn zu einem Gespräch getroffen und haben dabei eine wahrhaftige Trouvaille gemacht: gefunden in den vielschichtigen Gesichtern seiner Fotografie, die uns beim Betrachten immer wieder die Bodenhaftung verlieren lassen.
Corona hat viele unserer Wohn- und Lebensgewohnheiten auf den Prüfstand gestellt. «Wir werden uns», so die Trendforscherin Li Edelkoort, «in Zukunft nicht nur stärker auf jene Menschen konzentrieren, zu welchen wir eine wirklich starke Verbindung haben, sondern auch die Dinge in unserem direkten Umfeld mehr schätzen, mehr respektieren.» Es geht wahrlich um grundsätzliche Fragen wie: wer ich bin, wie fühle ich, wohin gehe ich, wie werde ich wahrgenommen. Von diesem philosophischen Ansatz ist Erwin Olaf angetrieben, wenn er auf der Suche ist, die Weltordnung für sich ein wenig neu zu definieren. Es ist wohltuend, zuzusehen, mit wie viel Lust und Zuversicht Erwin Olaf daran ist, aus den verschlungenen Lebenswegen auszuwandern. Die glattgeputzte Oberfläche der Wirklichkeit interessiert ihn kaum. Er ist ein über den kleinen Normen des Durchschnittslebens erhabener Suchender. Und das ist gut so.
Frank Joss: Ich war Ende August in München in der Kunsthalle, um mir Ihre Arbeiten anzuschauen. Was ich sah, waren viele Besucher, die richtiggehend ergriffen, mitunter fast erstarrt, vor den Bildern standen. So habe ich das zum letzten Mal in der Tate Modern in London angetroffen, bei der Installation «Rising Sun» von Olafur Eliasson. Es war kein Laut zu hören. Absolute Stille. Wie erklären Sie sich das, wenn Menschen vor Ihren Bilder verstummen? Ist es die unverhoffte Berührung des eigenen Seelenhaushalts?
Erwin Olaf: Oh, dafür habe ich nicht wirklich eine Antwort. Es berührt mich gleichermassen wie die Besucher der Ausstellung. Was ich mit meinen Bildern immer einzufangen versuche, ist das Bild und die unsichtbare Geschichte dahinter zu erzählen. Meine beruflichen Gehversuche konzentrierten sich ja ursprünglich auf den Journalismus, nicht auf die Fotografie, die ich später entdeckte. Da ich ja anfänglich meine eigenen Bilder, also fern von einem Auftrag, realisiert habe, war ich mir bewusst: Ich muss total ehrlich sein mit meinen eigenen Emotionen, um sie dann glaubhaft in Bildern ansiedeln zu können.
Das war immer meine Grundhaltung, mit meinen Bildern auch ein wenig Seelenstriptease zu machen. Der Betrachter soll verstehen, was in mir vorgegangen ist just im Moment, als die Fotografie entstand. Es soll zeigen, wo ich bin, was ich denke, fühle und wo ich mich in meinem Leben gerade befinde. Das hat sich in den vierzig Jahren, in denen ich fotografiere, nicht verändert. Es ist gewissermassen das Glaubensbekenntnis für meine Arbeit. Dieses Reflektieren auf sich selbst haben wohl viele Menschen und es erreicht uns unabhängig des Kontinuums von Raum und Zeit. Mit meinen Bildern löse ich vielleicht beim Betrachter ein Gefühl aus, welches irgendwo schlummert und nun, durch den Inhalt des Bildes wachgerüttelt, ihn an eigene Geschichten erinnert.
Vor ihren Bildern stehend, umschlich mich das gute Gefühl noch nicht an der Endstation Sehnsucht angekommen zu sein. Ich verspürte den Wunsch, mit meinen Sehnsüchten zu reden, sie anzufassen. Es ist wohl die Wiederentdeckung, meinen Emotionen mehr Platz zum Entfalten einzuräumen. Hier und jetzt.
Es ist nicht allein Sehnsucht. Vielleicht hat es mit «Ankommen» zu tun. Ich erinnere mich an eine Situation mit meiner Mutter. Sie sass bei uns Zuhause auf dem Sofa, genau diesem Gedanken nachhängend: «Ich bin zuhause, aber will nach Hause.» Alle meine Arbeiten sind seither begleitet von diesem Gedanken. In ihm steckt wohl der Keim aller unserer Ambivalenzen, die uns im Leben umfliessen. Ich habe keine endgültige Erklärung für diesen, prima vista, scheinbar einfachen Gedanken. Ich ahne, sie wollte damit sagen, ein Leben lang unterwegs zu sein, mit dem Prinzip der Hoffnung lebend, einmal wirklich anzukommen. Das ist wohl der uns alle umfassende Wunsch, einen Ort zu haben, der uns in die Arme nimmt ohne zu hinterfragen, wer Du bist, was Du tust, wohin Du gehst. Meine Mutter hat mit diesem Gedanken mein Fühlen, Denken und Handeln geprägt. Eine Prägung, die sich wie ein Stempel in allen meinen Bildern eingegraben hat.
Das baut ja eine wunderbare Brücke zu meiner nächsten Frage. Es ist die Verlorenheit, wie wir sie in den Bildern von Edward Hopper erkennen. Hat er Ihre Arbeit inspiriert?
Als Maler von Kleinstädten und scheinbar banalen Szenen bevorzugt Hopper ruhige, vertraute, oft auch öde Orte. Seine sonderbar stillen Gemälde besitzen einen undefinierbaren mysteriösen Charakter. Sie wirken oft leer und verlassen oder werden von regungslosen, melancholischen Figuren belebt, die in Erwartung ihres Schicksals erstarrt scheinen. Die eisige Präzision seiner Malerei, der sehr konstruiert wirkende Bildaufbau und die starken Lichtkontraste kreieren eine eigentümliche Fremdartigkeit. Sehe ich darin wohl eine Verwandtschaft mit der Art, wie Ihre Bilder unsere Seelen umklammern?
Halt. Da muss ich etwas zwingend erklären. Zu Beginn meiner künstlerischen Laufbahn wollte ich eigentlich allen beweisen, wie bedeutend meine Bilder sind.
«Schaut her! Grossartig, nicht?” Wie das so üblich ist bei Männern: wir wollen immer gleich die Welt erobern, den Olymp besteigen, auf dem höchsten Gipfel stehen ….tä, tä, tä da täm.. die Siegesfanfare für uns einspielen lassen. “Ich bin super! Ich bin unique! Ich bin zwar so schwul wie möglich, aber auch ein Supermacho!»
In dieser Zeit entstanden meine Serien wie Chessmen oder Royl Blood; verbunden mit einer selbstverherrlichten Aggressivität. Und dann kam ein Moment, so um die Vierzig, wo ich müde war von meiner enthemmten Idee, Brutales, Verletzendes schonungslos zu plakatieren. Das war im Jahr 2001. Nine Eleven, hatte gerade die ganze Welt traumatisiert. In Amsterdam sind darob viele Stimmen wach geworden, die meinten, es komme nicht von ungefähr, wenn Amerika büssen müsste für viele staatsrechtliche Verfehlungen, für ihre Politik der Vergeltung. Dabei wurde vergessen, welch grossen Anteil die Amerikaner daran hatten, dass wir in Europa immer noch als freie Menschen herumlaufen.
In meiner Wut gegen diese banale, eindimensionale Darstellung des machtgierigen Amerikaners wuchs in mir die Lust, einen Bildband zu machen als Hommage an jene guten Seiten Amerikas, die uns davor bewahrten, politische und menschliche Gefangene des Dritten Reichs, des nationalsozialistischen Deutschlands zu werden. Orientiert habe ich mich dann an der Arbeit von Norman Rockwell.
Er war ein US-amerikanischer Maler und Illustrator der frühen 30er-Jahre. In mehr als 40 Jahren schuf er über 300 Titelbilder der Saturday Evening Post, was ihm eine hohe Popularität verschaffte. Neben alltäglichen, realistisch gemalten Szenen eines häufig idealisierten amerikanischen Lebensstils finden sich jedoch auch sozialkritisch anmutende Bilder Rockwells wie beispielsweise The Problem we all live with. Ein Gemälde aus dem Jahr 1963. Es wird als ikonographisches Werk der Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten angesehen. Es zeigt Ruby Bridges, ein sechsjähriges afro-amerikanisches Mädchen, am 14. November 1960, auf ihrem Weg zur William Frantz Elementary School, einer rein-weissen öffentlichen Schule. Wegen Bedrohungen und Gewalt ihr gegenüber wird sie von vier Deputy U.S. Marshals begeleitet. Das Bild ist so geschnitten, dass die Köpfe der Marschälle an den Schultern beschnitten sind. An der Wand hinter ihr stehen die rassistische Herabwürdigung „nigger“ und die Buchstaben „KKK“. Eine an die Wand geworfene und dort zerplatzte Tomate ist als Fleck ebenfalls erkennbar. Die weissen Protestler sind nicht sichtbar, da der Betrachter deren Blickwinkel einnimmt. Um Ihre Frage final zu beantworten: Norman Rockwell war es, der meine Fotografie anfänglich beeinflusste, nicht jedoch Edward Hopper. Hoppers Bilder, wenn auch kaum merkbar und doch ausweglos, verkünden ein Gefühl von etwas, das war. Meine Bilder tun, so hoffe ich, das Gegenteil: sie verkünden das, was noch kommen wird; erzählen eigentlich mehr über den Möglichkeitsraum, der im ganzen Bild steckt.
Nun von der Absicht beseelt, Amerika meinen Dank für die Freiheit auszudrücken, entstand meine Fotoserie «Rain». Wohlwissend, wie unfrei für Schwarze und Menschen aus nichtamerikanischen Kulturen der amerikanische Alltag war. Alsbald aber änderte ich mein Vorhaben, es war ein innerer Ruf, ein Weckruf zu zeigen, wie verloren, wie einsam Menschen in verschiedenen Lebenssituationen sein können. Ich zitiere aus meinem Buch «Unheimlich schön»: «Die Menschen meiner »Rain»-Serie muten in sich gekehrt und unfähig zur Kommunikation an. Ihre Einsamkeit wird durch die ausbleibende Interaktion mit anderen Personen im Bild jeweils verstärkt.»
Die Bilder lösen ja auch eine Form von Beklemmung aus. Kommt dieses Beklommenheit von der Gewissheit einer fiktiven Gegenwart, die sich im Warten ausdehnt und sich doch nie ereignen wird? Leere pur! Ihre Bilder reden aber auch von eindringlicher Intimität. Was denken Sie, macht den Betrachter so verwundert, wenn er vor einem Ihrer Bilder aus der «Rain»-Serie steht. Ist es die Inszenierung der Ohnmacht oder die schonungslose Unmittelbarkeit der Bilder, und damit ein gewisses Offenlegen ihrer Intimität? Oder sind Sie ganz einfach nur ein raffinierter Verführer… der Augenlust?
Nun, ich fühle mich oft wie ein unbedeutender Statist in einem Horrorfilm mit ungewissem Ausgang. Es ist, als habe das Flugzeug, in dem wir alle sitzen, gerade seinen Motor verloren, doch die vermeintlich angenehme Stille ist nur Vorbote dessen, was noch kommen wird: Nämlich das Zusammenbrechen einer Illusion. Gut möglich, die unsägliche Corona-Pandemie auch vor diesem Hintergrund zu verstehen: Unsere Unfähigkeit, dem Unabänderlichen aus dem Weg zu gehen.
Einsamkeit ist nicht nur ein Privatproblem, sondern auch die Folge prekärer Entwicklungen in unserer Gesellschaft. Werden wir mehr und mehr zu einer Art Sackgassenmensch? Die Ausweglosigkeit einfach akzeptierend? Das Alleinsein kann durchaus gewollt sein und so gesehen eine geeignete Lebensform darstellen. Das Gefühl der Einsamkeit ist hingegen immer ungewollt. Es markiert Verluste von sozialen Beziehungen, die zumeist aus eigenem Antrieb nicht wieder wettzumachen sind. Das Drama der Einsamkeit nährt sich auch aus der Empfindung, dass dieser Zustand unabänderlich sei.
Erwin Olaf ist ja immer unterwegs, eine andere Realität als die der Gegenwart darzustellen. Ist das vielleicht eine kluge therapeutische Form, damit Sie sich im Alltag selber besser fühlen? Oder anders gefragt: Was ist Ihre Realität?
Ich zitiere aus meinem Buch «Unheimliche schön»: «Bei der Art von Projekten, wie ich sie mache, gibt man immer ein Stück seiner Seele preis; also ein Stück davon, was wir gemeinhin als Realität verstehen. Wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst bin, mache ich mich durch jedes persönliche Projekt ein kleines bisschen verletzbarer. Das geschieht natürlich nur in ganz kleinen Schritten… aber ich komme bei meinen Projekten immer mehr in der Realität an. Es gibt keine Verkleidungen mehr, keine Zeitreisen. Ich fange an, die Realität, so wie sie gerade ist, anzunehmen.»