Noch ist es ruhig. Der Tag hat gerade zu dämmern begonnen. Erste Frühaufsteher lenken ihre Autos über die Quaibrücke hinaus aus der Stadt. Oder hinein. Eine Strassenbahn durchschneidet rüttelnd und quietschend fast überlaut das morgendliche Luftholen. Nahezu geräuschlos schiebt sich ein Taxi ums Eck der Bahnhofstrasse. Vom nahen Kirchturm schlägt die Glocke. Dann etwas weiter entfernt die nächste. St. Peter und das Fraumünster. Es ist fünf Uhr. Ganz still liegt er da, der hübsche Platz mit seinem romantischen Jugendstil-Pavillon in der Mitte seines Geviertes. Ein paar Jahrmarktkarusselle hocken, fest in Planen eingezurrt, am Rande des Platzes, wartend auf Zürichs grösstes Volksfest, das Jahr für Jahr den Winter symbolhaft austreiben will mit Spektakel und Festlaune. Der Himmel liegt wie ein klare Glocke über den noch frühlingskahlen mächtigen Platanen, die den Platz unterteilen gleich verwurzelten Schachfiguren. Die Sterne, wie hineingehängt ins Geäst, verblassen von Minute zu Minute. Nur die überschmale Mondsichel hält ihr Licht noch lange aufrecht in der aufstrahlenden Helligkeit von Osten über dem See.
Dann – ein erster grosser Lieferwagen biegt auf den Platz. Türen öffnen sich geräuschvoll, Stimmen ertönen, Planen werden flatternd nach oben geschlagen, Tische auseinandergeklappt und auf den festgetretenen Boden gestellt. Erste Kisten werden herumgereicht. Nach einer halben Stunde erinnert nichts mehr an das verträumte Vorsichhinsinnen des nächtlichen Platzes. Ein Stand nach dem anderen erhebt sich beinah wie aus dem Nichts mit hundertfach eingeübten Handgriffen innerhalb von Minuten. Das ist dann also der Beginn von Zürichs feinem, kleinen Markt, der Woche für Woche an jeweils zwei Tagen Gemüse und Obst, Blumen und Pflanzen, regionale Spezialitäten und solche von weither den kauflustigen Marktgängern anbietet. Und das schon seit mehr als einhundert Jahren. Im Rücken das imposante Gebäude der Schweizer Nationalbank, vor sich den Blick auf die Weite des Sees, zieht dieser Markt magisch an. Hat man die zwei Stufen von der Bahnhofstrasse hinauf zum Bürkliplatz erst einmal genommen, wähnt man sich in einer Oase. Das erste zarte Grün der weit ausladenden Bäume, die so alt sind wie der Platz selbst, die bunte Pracht der Blumen in Vasen, Trögen, Töpfen, immer wieder anders und immer wieder neu, wechselnd von Monat zu Monat. Die Vielfalt der Gemüse, die nicht weniger bunt sind. Beim Schlendern von Stand zu Stand scheint die Zeit langsamer zu laufen. Die sinnlichen Eindrücke von Schauen, Riechen, Tasten und die kleinen freundlichen Gespräche, die sich beinah an jedem Marktstand wie von selbst ergeben, erzeugen ein Gefühl von bodenständiger Heiterkeit. Da ist nichts Abgehobenes. Da wird der eigenen Hände Arbeit spürbar, nachvollziehbar. Eine Entspanntheit, die schon an den Süden gemahnt, legt sich für ein paar Stunden über den Platz. Die Produkte, gleich welcher Art, locken frisch und oftmals hausgemacht zur Kauflust. Und mancher Tipp wird bereitwillig weitergegeben. Man tauscht sich aus, sei es über den besten Ort fürs Kaufen von Rosenstöcken, Kochrezepte am Stand mit den unwiderstehlichsten Käsesorten oder die ideale Lage für ein Kräuterbeet. Ganz leicht finden sich ganz Fremde ins Gespräch, das mit einem Lächeln abgeschlossen wird, als hätte man gerade Freunde gewonnen. Wer je die Märkte in Frankreichs Süden erlebt hat, wird hier einen Hauch davon wiederfinden. Oder ganz konkret die herrlichsten Oliven in unzähligen Sorten. Die schwarzen oder grünen Früchte stammen tatsächlich aus Frankreich, doch die köstlichen Marinaden zaubert Louis Schifferle gemeinsam mit seiner Mutter. Daneben auch noch wunderbare Pestos oder Brotaufstriche. Vor zweieinhalb Jahren hat er das Geschäft von seinem Vater übernommen. Nun steht er an dem Stand. Dreissig Jahre gibt es das Familienunternehmen schon. „Klein, aber fein“ lächelt der junge sympathische Mann und wiegt mit ruhiger Hand ein Schälchen Oliven ab. Klein und fein sind auch die exotischen Früchte, die den zweiten Tisch bedecken. Diesen Geschäftszweig hat Louis von einem früheren Standnachbarn übernommen. Direktimport aus Sri Lanka. Ohne Zwischenhändler vom Obstbauern dort direkt zu ihm auf den Tisch. Der Geschmack der Apfelbanane ist unglaublich. „Baumgereift“, bemerkt Louis und ist dann gleich ins Gespräch mit einer Kundin vertieft. Helga Hentschel kommt zu den Schifferles, seit sie ihren Stand auf dem Markt haben. „Die Ware ist immer frisch und geschmacklich so schön ausbalanciert“, beschreibt die Stammkundin das Besondere hier. Es wird wärmer, die Sonne überflutet den Platz. Mancher Marktbesucher hat seine Einkäufe schon im Korb und gönnt sich nun einen Kaffee und ein Stück hausgemachtes Gebäck drüben am Kiosk. Auch hier geht das Fachsimpeln weiter. Die neu errungenen Pflanzen und üppigen Blumensträusse werden wie Jagdtrophäen bewundert. Es ist kurz vor elf Uhr, als die gelassene Heiterkeit sich verändert. Eine leichte Unruhe kommt auf, die jedoch noch lange entfernt ist von der tagtäglichen Hektik in der nur einen Steinwurf entfernten Bahnhofstrasse mit ihren mondänen Geschäften. Letzte Waren gehen über die schmalen Tische und Gemüsestiegen hinweg. Nach elf Uhr darf nichts mehr verkauft werden. Darauf wird streng geachtet. Werner Dubach beginnt mit dem Einräumen seiner hinreissend schönen Tulpen. An ihnen kann man nicht so einfach vorbeigehen. Auch er ist seit mehr als dreissig Jahren hier auf dem Markt. Siebzig bis achtzig Prozent seiner Blumen kommen aus eigener Produktion. „Wir leben vom Markt“, sagt der gelernte Werkzeugmacher, der damals mit seinen Eltern zusammen diese Geschäftsidee verwirklichte, die mit Freilandrosen und einem Gartentisch samt Sonnenschirm hier auf dem Bürkliplatz begann.
„Die Kunden wollen vom Produzenten kaufen und andere Sachen, als man bei Migros oder Coop bekommt“, erzählt der passionierte Blumengärtner weiter. Tatsächlich sind dort wohl noch nie solch faszinierende grüne oder rot-gelb gestreifte Tulpen gesichtet worden. Oder die zartvioletten mit dem gekräuselten Rand. Die LKWs sind vorgefahren. Palettenwagen rollen über die Rampen. Schnell leert sich Stand um Stand. Um zwölf Uhr ist alles vorbei. Es ist richtig warm geworden. Ein paar Wolken ziehen auf und werfen Schatten auf den Platz, der sich nun wieder in träge Ruhe hüllt, während ringsherum das städtische Geschehen brodelt.