«Früher war alles besser.» Das sagte mein Vater gerne und oft, eigentlich bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Fuhren wir mit unserem senfgelben Toyota Kombi vom Dorf in die grosse Stadt (9000 Einwohner) und staute sich irgendwo der Verkehr (und waren es bloss drei Autos vor einer roten Ampel), so sagte er kopfschüttelnd: Das gab es früher nicht. In den Nachrichten kamen Berichte über Umweltkatastrophen / Randale / Firmenkonkurse irgendwo auf der Welt: Das gab es früher nicht. Erzählte man ihm, dass der Besitzer des Sägewerks von seiner Frau verlassen worden war, da seine Frau sich entschlossen habe nun mit der Frau des Hühnerzüchters zusammen zu leben, so verdrehte er die Augen gen Himmel und sagte: Das gab es früher nicht. Die Welt, sie wurde schlechter, von Tag zu Tag. Früher war eben alles besser. So war es und so würde es immer sein. Gut, in der totalen Konsequenz würde dies bedeuten, dass am allerbesten die Dinge beim Urknall gewesen sein mussten. Oder noch präziser: Davor. Ehrlich gesagt stelle ich mir die Welt zum Zeitpunkt des Urknalls ziemlich ungemütlich vor und auch in den meisten der folgenden gut viereinhalb Milliarden Jahre.
Dass früher alles besser war, das ist also eine Behauptung, die so wackelig ist wie ein Bambus-Baugerüst in der chinesischen Provinz. Und dass sie ganz und gar falsch ist, das wurde mir klar, als ich eine Kiste durchwühlte im Lagerraum der eben erst vergangenen Gegenwart: dem Keller. In der Kiste fand ich ein Foto. Es gibt wenige Dinge in meinem Besitz, die mich länger als zwanzig Jahre schon begleiten. Und zu den wirklich alten Dingen, den Artefakten meiner biographischen Archäologie quasi, gehören nebst meiner Sammlung von alten Nintendo-Spielen (Donkey Kong Jr. etcetera) ein paar Fotos und eines davon hielt ich in den Händen, im humorlos hellen Neonlicht des Kellers, und ich sagte, weil ich nicht anders konnte: «Ach…du…Scheisse.» Ich schätzte, das Foto ist dreissig Jahre alt. Darauf zu sehen vor dem elterlichen Hühnergehege ist meine damalige Freundin in einem apokalyptisch aprikosen- bis lachsfarbenen Wickelkleid und neben ihr stehe ich, mein rechter Arm um ihre Schulter gelegt. In den Händen hält sie ein wollknäuelgrosses Kätzchen, sie lächelt, ich grinse als müsste ich aufs Klo – so weit ist alles gut auf dem Bild, aber: Meine Frisur! Meine Kleidung! Ich musste mich setzen, im Keller, auf eine beinahe kippende Kiste. Am Allerschlimmsten: Die bis über den Bauchnabel hochgezogene gürtellose Gummibund-Hose aus einem grün-gelb-rot karierten Stoff, den man nicht einmal für eine Picknickdecke verwenden sollte. Es musste Mode gewesen sein, damals. Noch einmal entfuhr es mir: «Ach…du…Scheisse.»
Zweifelsohne bin ich der Mann auf dem Foto. Aber es ist auch ein anderer. Es ist mein Ich vor dreissig Jahren. Und in diesen dreissig Jahren war viel geschehen. Zum Glück. Die Mode ist der getragene Beweis dafür, dass früher nicht alles besser gewesen ist. Ganz und gar nicht. Die Mode könnte ein Beleg dafür sein, dass früher alles schlechter war und folglich heute alles besser ist? Nun ja, ich denke, die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Vor allem aber ist die Mode ein Beweis dafür, dass die Zeit vergeht und sich die Dinge verändern und wandeln. Und darauf kommt es an.
Max Küng
PS: Zu den Dingen, die früher wirklich besser waren, gehört der eingangs erwähnte Toyota Kombi, respektive dessen Farbe: Senfgelb. Ich frage mich manchmal, wohin all die Farben der Autos verschwunden sind und ob das flächendeckende Grau und Silber und Schwarz eventuell Ausdruck dafür sein könnte, dass die Menschen Angst vor der Farbe haben, also: Angst im Allgemeinen. Könnte sein.
PPS: Ich fahre auch ein schwarzes Auto. In Ermangelung einer schöneren Farbe.
PPPS: Wer scharf darauf ist, das Bild zu sehen, das Foto, von dem hier die Rede ist: Es findet sich auf Seite 184 des Buches «Buch N˚2», erschienen im Verlag Edition Patrick Frey, Zürich. Bald auch zu sehen auf der sich im Anflug befindenden Homepage www.maxkueng.ch
PPPPS: Eben erschienen: Max Küngs zweiter Roman «Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück», Verlag Kein & Aber, 380 Seiten, ISBN 978-3-0369-5744-9.