Wie Edelnomaden sesshaft werden

Seit Corona zurück auf der Erdoberfläche, entdecken wir uns als ortsgebundene Wesen. Jetzt muss Architektur uns helfen, hier und jetzt zu leben.

Kürzlich noch sahen wir unseren Wohnort als Basislager, von da brachen wir auf, kaum hatten wir etwas Zeit, am Wochenende, im Urlaub, nach der Pensionierung. Unsere Sehnsuchtsorte lagen verstreut über den Planeten, Biken im Engadin, Safari in Botswana, Tauchen in der Südsee, Whisky-Trip in Schottland. Wir lebten wie Edelnomaden, schwirrten umher im grenzenlosen Horizont individueller Mobilität. War es das Glück von Weltbürgern – oder Eskapismus von Kleinbürgern? Hauptsache Tapetenwechsel?
Geben unsere eigenen Tapeten nicht genug her? Sie ziehen scharenweise Touristen an; Restaurants, Kultur, Shopping lassen kaum Wünsche offen. Warum wollen wir dann dauernd weg? Liegt es an uns? An der Stadt? Zu wenig Spielvarianten hier? Die Kulisse ist das halbe Theater. Sie entscheidet mit, welches Stück wir darin aufführen – Lustspiel, Trauerspiel, Schwank, Festspiel. Und – wer baut die Kulissen? Eben. Architekten ziehen nicht nur Bauhüllen hoch, sie basteln an unserer Lebensart, formen unser Rollenbild. Menschen sind keine reinen Geister, wir antworten auf Signale der Umgebung, passen unser Spiel den Kulissen an. Animieren sie uns, leben wir auf. Weisen sie uns ab, dümpeln wir vor uns hin oder rasten aus – oder hauen ab.

Leicht gesagt, Mobilität verliert die Selbstverständlichkeit. Das veranstaltete Leben auch. Bleiben die äusseren Freiheiten beschränkt, könnten wir die innere Freiheit reanimieren. Wie Kinder es tun. Die kommen von selbst nie auf die Idee, zum Spielen unbedingt mal nach Griechenland fahren zu müssen. Sie nehmen, was sie hier finden, Sand, Kieselsteine, Farbstifte – damit bauen sie eine ganze Welt, ihre Welt. Ähnlich könnten wir, nun nicht mehr Anhängsel des Veranstaltungskalenders, unser Leben selber veranstalten, aus uns heraus gestalten und nicht bloss als Endverbraucher unserer Lebenschance herumvagabundieren. Wir könnten da, wo wir leben, zu bauen beginnen an etwas, das man «soziales Kunstwerk» nennt: ein Biotop unterschiedlicher Menschen, die genug davon haben, ihr Leben zu outsourcen, ihre Fantasie nur an Reise- und Konsumofferten zu hängen. Sie tun sich zusammen, mischen, was sie können, Tüchtigkeiten, Kunst und Arbeit; vielleicht entsteht so eine Welt, so frei wie die der Kinder, eine Welt mit neuer Währung: Sinn, Gemeinschaft, Erlebnis. Hier, in der Stadt, im Quartier.

Taugt die Stadt, wie sie ist, für so etwas als Bühne? Sicher braucht sie mehr Platz für Bewegung, mehr Spielraum für Begegnung; an vielen Orten bleibt heute unklar, für wen sie da ist, das muss offensichtlich werden: für die Menschen, die in ihr leben. Die brauchen auch mehr Grün fürs Durchatmen unbedingt, mehr Bäume auf Strassen, Plätzen, Fassaden. Wie Friedensreich Hundertwasser schon vor 50 Jahren schwärmte: «Die sterilen Wände der Häuserschluchten, unter deren Aggressivität und Tyrannei wir täglich leiden, werden wie grüne Täler, wo der Mensch frei atmen kann.»
Bei all den drängenden Debatten über Stadtgrün und Velostrassen wollen wir die Architektur nicht vergessen. Sie entscheidet letztlich, ob wir Edelnomaden hier sesshaft werden. Spricht sie mit uns? Spricht sie uns an? Ist sie überhaupt interessiert an uns? Wir Menschen mögen Umgebungen, in denen wir uns wiedererkennen, also Kulissen, an denen etwas sichtbar wird, das uns gleicht. Unser Körper zum Beispiel ist gegliedert, Kopf, Rumpf, Beine, auch steht überall etwas vor, Nase, Brust, Bauch. Da wir mit dieser Gliederung nicht allein bleiben wollen, suchen wir die Resonanz – und sympathisieren mit Fassaden, an denen Erker vorstehen, Fenster einliegen, Balkone abstehen. Da fühlen wir uns schon verstanden, also willkommen. An glatten Bauten gleitet unser Blick ab, wir finden nirgends Halt, sind verloren, wollen nichts wie weg. Der Mensch kann nicht nicht kommunizieren, laut Paul Watzlawick. Tönt abgedroschen, ist trotzdem wahr. Architektur muss mit uns kommunizieren wollen, sonst sind wir hier fremd. Die Bedingung aller Kommunikation aber ist: etwas Gemeinsames.

Warum ist es dann überall so glatt? Architekten sind meist mit edlen Motiven am Werk. Seit Adolf Loos (Ornament = Verbrechen, 1908) wollen sie uns von der Biederkeit befreien, den Mief, das Kleinkarierte, Beengende vertreiben, die Räume durchlüften, uns mit geometrischer Klarheit auf die Höhe der Zeit bringen – gegen die einlullende Idee einer Häuslichkeit, die sich als Etui weltflüchtiger Privatheit verstand. Bravo. Nur verlor irgendwann die menschenbeglückende Idee den realen Menschen aus dem Blick. Vieles, was um ihn herum hochgezogen wurde, macht ihn eher klein und platt, statt ihn gross in Freiheitslaune zu bringen: kubistische Klone, frei von Geschichte und Ortsgebundenheit, es herrscht formale Reduktion, räumlicher Minimalismus, Dominanz des Rechtecks. Welche Signale soll er da empfangen? Dass dies alles so schuhschachtelmässig zurückhaltend gebaut sei, damit er, ein sinnlicher Prachtmensch, sich ungehinderter entfalten könne? Die Botschaft kommt eher so an: Mach kein Theater, konzentrier dich aufs Wesentliche, lass dich nicht treiben, hier sind wir rational und funktional und effizient – sei du es auch!
Das drückt aufs Lebensgefühl, jetzt besonders, da wir uns nicht in ein malerisches Städtchen in Südfrankreich absetzen können. Dabei ist es kein Geheimnis, wie ein beliebtes Quartier, wie eine gut frequentierte Stadtstrasse gestaltet ist. Jan Gehl, ein dänischer Stadtplaner, hat das Tempo gemessen, mit dem die Leute durch ein Quartier gehen. Alle fünf Sekunden etwa sollte die Strasse eine Abwechslung bieten, dann flanieren die Leute gutgelaunt, es müssen keine Sensationen sein, kleine Unterbrechungen genügen. Fehlen die, beschleunigen die Leuten den Gang, sie fühlen sich buchstäblich auf der Häuserflucht. Wir kennen es auch ohne Forschung. Es gibt auch hier Strassenzüge, da hält uns nichts, wir wollen nur weg aus der Monotonie. Wo wir hinschauen, signalisiert die Fassade: Weiter, Zwerg! Hier gibt es nichts zu sehen, nichts zu tun, was hast du hier überhaupt zu suchen? Was bildest du dir ein, es geht hier ums Business, verschwinde, du Loser.

Wir reden gern über Dichte, über Höhe von Architektur. Seltener über deren Dramaturgie. Warum meiden wir bestimmte Strassen und verweilen gern auf anderen, in Zürich, in Solothurn, in Paris? Es liegt an der dramaturgischen Geste. Eingeladen fühlen wir uns auf Strassen, die uns wie ein Handlungsbogen umfangen, mit einem Anfang, einem Mittelstück, einem Ende. Die Strasse wird zur Geschichte, es passiert etwas, Passanten werden zu Akteuren, aufgefordert zum Mitspielen.
Ist es vielleicht das Missverständnis manch moderner Architektur: dass sie den Menschen überschätzt? Sie hält ihn für einen kleinen Gott, für ein souveränes Ich, das zur Form aufläuft, wenn ihm bloss alle Hindernisse aus dem Weg geräumt werden, wozu vor allem Vergangenheitslasten gehören; in der gediegenen Leere einer architektonischen Gesichtslosigkeit würde er erst recht Profil gewinnen, würde frei und kreativ aufspielen. Tatsächlich erfahren wir stets deutlicher: Das Vergnügen, stets zu sein, wie ich bin, ist bestenfalls anstrengend. Psychiater diagnostizieren ein massenhaftes Leiden am «Überdruss, sich immerzu selber sein zu müssen». Das «erschöpfte Selbst» verbraucht sich, wo es die eigene Mickrigkeit zum Mass seines Lebens macht.
Überfordert ist der Mensch auch in seiner Aussenbeziehung, wenn er stets selber der Erzähler sein soll. Soviel gibt sein Leben gar nicht her. Lieber will er was erzählt bekommen, auch von der Architektur, nicht immer nur kriegen, was er sich selber vorstellt. Er möchte gelegentlich Urlaub machen von sich, wegtauchen in andere Stories. Darum gehen wir ins Theater, da werden wir Gast in Geschichten, die nicht nach unserer Regie laufen, in Dramen und Komödien von Sophokles oder Dürrenmatt, in Opern von Puccini oder Dieter Ammann. Oder in Swiss Historic Hotels, als Gast in Gaststätten mit jahrhundertealter Tradition; die Häuser wirken besonders einladend, wenn man ihnen ansieht, dass sie schon einiges hinter sich haben. Seitdem fast alles Design ist, wird attraktiver, was gewachsen ist. Wo wir bei zeitgenössischen Bauten von Ratio schwärmen, von technischer Raffinesse und kühler Funktionalität, merken wir in diesen historischen Räumen: Atmosphäre ist wichtig! Empfindung! Intensität! Stil! Eleganz! Hier beschränkte sich Architektur nicht auf transparente Rechtwinkligkeit und riesige Fenster. Hier bauten Architekten auf örtliche Besonderheit, auf Sinn und Sinnlichkeit, sie wussten, wie man Menschen einen Ort einräumt, warum sie in Räumen geborgen sind, angeregt oder abgelehnt. Architektur als Meisterin irdischer Aufenthaltsqualität. Räume als Kunst, alle Sinne beisammen zu haben.

Nichts als Nostalgie? Ich bin nicht auf der Suche nach verlorenen Zeiten, eher nach Mustern, in denen Mensch und Architektur miteinander glücklich wurden. So wie alle Welt Mozart liebt oder Beethoven. Nicht, dass dann nur noch Mozart gespielt werden soll, bloss das nicht, doch der Geist darin, die Idee, die Denkart, damit liesse sich vielleicht auch heute prima arbeiten – mit komplett neuen Tönen. Und in der Architektur mit radikal erneuerten Form- und Materialsprachen – jedoch im Geiste dieser spürbar gelungenen Beziehung zwischen Baukörper und Mensch.
Wie das aussehen könnte? Ich bin kein Architekt, ich bin schnell überfragt. Ich kann nur wünschen. Wir Menschen sind, wie gesagt, Resonanzwesen. Wir möchten stabile emotionale Beziehungen zu Räumen und Architekturen. Wir suchen die Zwiesprache mit Bauten, die weder gesichtslos noch in sich selbst verliebt sind, sondern erkennbar und erlebbar für uns gebaut. Verstummt diese Resonanz, retten wir uns in «Resonanz-Oasen» (Hartmut Rosa), in Kitschwelten oder ins Online-Pseudoleben.
Eine Zukunft der Architektur hat überall begonnen, wo das Soziale mit dem Privaten sich mischt. Wo die Trennung zwischen Privatleben und Arbeit und Geselligkeit fällt. Es entstehen durchmischte Parzellen. Besser statt schöner wohnen. Drei Generationen im selben Bau. Wohnungen mit flexiblen Grundrissen. Mit Joker-Zimmer. Gästezimmer zum Mieten. Dito Arbeitsräume. Küche für grössere Einladungen im Dachstock. Da folgt Architektur einer Dramaturgie, die das Leben schreibt. Sie erleichtert das Alltagsleben und belebt, bereichert es: durch Vielfalt, Reibung, Ergänzung. Erst recht, wenn es gelingt, Wohnen und Arbeiten zu verknüpfen – mit Agenturen, Läden, Restaurants, verschachtelten Büro- und Atelierflächen … Hier räumt Architektur das Leben nicht nur ein, sie inszeniert es. Sie wird zur Bühne fürs bunte Leben – und kommt bald an in der wunderbaren Welt der Kinder, in der nichts fehlt, weil alles menschlich Elementare da ist: Sinn, Gemeinschaft, Erlebnis.

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