Ohne Design kein Sein. Eine kleine Philosophie der Gestaltung

Design & Kunst

03.07.2025
Frank Joss

7 Minuten

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Ohne Design kein Sein. Eine kleine Philosophie der Gestaltung
ION ist eine multifunktionale Brücke zwischen verschiedenen Nutzungs- und Lebensräumen. Sie kann als Bettbank, als niedriges Sideboard oder Sitzmöbel im Eingangsbereich, auf der Loggia oder im Wohnzimmer dienen. Fotos: Rainer Schär

ION ist eine multifunktionale Brücke zwischen verschiedenen Nutzungs- und Lebensräumen. Sie kann als Bettbank, als niedriges Sideboard oder Sitzmöbel im Eingangsbereich, auf der Loggia oder im Wohnzimmer dienen. Fotos: Rainer Schär

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Design ist weit mehr als nur das Spiel mit Form, Farbe und Funktion. Es ist – man darf das ruhig so kühn sagen – eine existenzielle Kategorie. Eine Grundbedingung unseres In-der-Welt-Seins. Die These «ohne Design kein Sein» provoziert, aber sie trifft ins Mark. Denn Gestaltung ist nichts Geringeres als die Choreografie unseres Daseins: Wie wir leben, wie wir denken, wie wir einander begegnen – all das ist durch Design geprägt. Design ist nicht bloss sichtbar. Es ist wirksam. Es strukturiert unsere Welt, verleiht ihr Sinn und Zusammenhang. Es ist Rahmen, Resonanzraum und Ausdrucksmittel zugleich. Martin Heidegger hat in Sein und Zeit beschrieben, dass das menschliche Dasein immer schon in einer Welt ist – einer Welt voller Bedeutungen, Ordnungen, Atmosphären. Diese Welt fällt nicht vom Himmel, sie ist gemacht. Gestaltet. Design ist damit nicht Kür, sondern Grundbedingung menschlicher Orientierung. Ohne es bliebe das Sein fragmentiert, lose, beliebig.

Skulptural, dekorativ und modular: Als raffinierte Ergänzung zur bestehenden Mobimex-Kollektion hat Iria Degen für den neuen Tisch «Ava» ein Untergestell entworfen – eine fantasievolle und doch klare Skulptur, die sich flexibel an jede Tischplattenform anpasst.

Skulptural, dekorativ und modular: Als raffinierte Ergänzung zur bestehenden Mobimex-Kollektion hat Iria Degen für den neuen Tisch «Ava» ein Untergestell entworfen – eine fantasievolle und doch klare Skulptur, die sich flexibel an jede Tischplattenform anpasst.

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Das Leben in Formen denken

Sein ist nie nur ein «Da-Sein». Es ist ein geformtes, gestimmtes, gedeutetes Sein. In jedem Raum, jedem Kleidungsstück, jedem Werkzeug spiegelt sich unser Selbstverständnis. Design ist also nicht dekorativ – es ist deklarativ. Es formuliert Identität. Es artikuliert Werte. Es erzählt Geschichte. Design ist eine Form der Selbstwerdung – ein stilles, oft unbewusstes Bekenntnis dazu, wie wir leben wollen. Ohne diese Gestaltung bleibt das Dasein diffus, unfassbar. Gestaltung bringt Ordnung, und Ordnung bringt Bedeutung. Ein Raum ohne Idee bleibt Hülle. Ein Objekt ohne Beziehung bleibt Ding. Gutes Design hingegen stiftet Geborgenheit – nicht durch Effekte, sondern durch Haltung.

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Mehr als schön: Warum Design Verantwortung trägt

Wer gestaltet, übernimmt Verantwortung. Denn Design wirkt immer – ästhetisch, funktional, emotional, sozial. Es kann das Leben veredeln oder beschädigen. Design, das auf Effekt, Überfluss oder reine Markenlogik setzt, verletzt das Sein. Ein bewusstes, nachhaltiges Design hingegen ehrt das Leben – in seiner Tiefe, seiner Vielfalt, seiner Fragilität. Es macht Räume bewohnbar und Objekte bedeutungsvoll. Fazit: Design ist nicht Beiwerk, sondern Bedingung. Nicht Ornament, sondern Ordnung. Nicht Dekoration, sondern Deutung. Es schafft die stillen Koordinaten, in denen sich unser Sein entfalten kann.

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Gespräch mit Iria Degen – über Haltung, Herkunft und die Schule von Andrée Putman

Wir haben die international renommierte Zürcher Designerin Iria Degen zum Gespräch getroffen. Ihr Werk ist geprägt von leiser Eleganz und feiner Intelligenz.

Iria Degen, Sie haben bei der legendären französischen Designerin Andrée Putman die Schule des Reduzierten und Bedeutenden durchlaufen. Sie selbst kamen vom Jura-Studium – ein ungewöhnlicher Weg ins Design. Wie fanden Sie den Zugang zu dieser Ikone?

Das war nur über Umwege möglich. Es hing zusammen mit dem Umzug nach Paris, wo ich mit meinem frisch abgeschlossenen Studium wenig ausrichten konnte. Ich musste mich also neu orientieren und habe meiner inneren Leidenschaft eine Chance gegeben. Ein befreundeter Architekt meinte damals: Für Interior Design gibt es in Paris nur eine Adresse – Andrée Putman. Ich ging in die Bibliothek – das war vor Google – und suchte nach allem, was über sie publiziert war. Dann wagte ich den Anruf. Dank glücklichen Umständen klappte es. Ich bekam einen Stage. Von Anfang an war da eine Art Seelenverwandtschaft. Wir teilten dieselben Vorstellungen und ich lernte sehr viel von ihr. Was gutes Design kann und soll: intelligente Funktion mit Ästhetik verbinden, Dinge und Räume ganzheitlich denken. Sie hat mir beigebracht, Projekte nicht als Aufträge zu betrachten, sondern als sinnvolle Aufgabenstellungen zu lösen.

Sie sagen, Leidenschaft sei zentral für gutes Design. Was genau bedeutet das in Ihrem Arbeitsalltag?

Leidenschaft ist die Basis für endlose Energie und Empathie. Eine Aufgabe leidenschaftlich anzugehen bedeutet, sie mit innerer Überzeugung, echter Neugier und vollem Einsatz zu gestalten. Man bringt nicht nur Know-how ein, sondern sich selbst. Leidenschaft führt zu Exzellenz, nicht durch Druck – sondern durch Hingabe und oft mit Leichtigkeit. Die Dienstleistungslogik steht nicht allein im Fokus, sondern die innere treibende Kraft ist die vordergründige Motivation.

Design beginnt also nicht beim Objekt?

Genau! Design beginnt immer beim Menschen. Bei seinen Geschichten, Gewohnheiten, individuellen Bedürfnissen. Design ist immer ein Spiegel. Eine nützliche Lösung für eine konkrete Fragestellung dank sorgfältiger Gestaltung. Eine persönliche Antwort des Designers, im besten Fall intelligent und kreativ, mitunter auch mal poetisch.

Was ist eigentlich schön? Die Klarheit einer Linie? Oder eher die Reibung, die Spannung?

Schönheit ist vor allem in der heutigen Zeit relativ geworden und wird subjektiv empfunden. Für mich ist sie nie laut. Manchmal liegt sie in der Harmonie, selten im Widerstand. Vielleicht ist es dieses stille Einverständnis, das entsteht, wenn Materialien, Farben und Formen anfangen, miteinander zu sprechen.

Und doch begegnet uns immer wieder leeres Design mit edlem Materialüberzug. Warum?

Ja, es passiert häufig: teures Material wird über eine fantasielose Idee gestülpt. Ohne relevanten oder wertvollen Inhalt. Da fehlt nicht das Budget, sondern der Gedanke. Material entfaltet seine Berechtigung nur im Kontext. Gestaltung heisst eben nicht einfach veredeln, sondern tatsächlich verstehen. Wer Räume verantwortungsvoll und nachhaltig gestaltet, schreibt authentische Geschichten – keine kurzlebige Effekthascherei.

Hat Design eine existenzielle Dimension?

Natürlich. Design ist nicht Dekor, Design schafft Wohlbefinden und Lebensqualität. Es gestaltet, wie wir wohnen, wie wir denken, wie wir einander begegnen. Es ist ein stiller Begleiter unseres Menschseins. Wir Menschen sind bekanntlich die einzigen Lebewesen, die ihre Bestimmung selber definieren müssen. Ein gutes Licht kann Vertrauen stiften. Ein Stuhl kann Geborgenheit schenken. Ein Raum kann Schutz oder auch Offenheit vermitteln. Design antwortet auf unsere Zerbrechlichkeit – auf unser Bedürfnis nach Sinn, Halt und Schönheit in einer oft chaotischen Welt.

«Ein Stuhl ist kein Stuhl», könnte man mit Augenzwinkern sagen?

Gewissermassen, denn ein Stuhl ist nicht nur ein Stuhl. Ein Stuhl trägt einen Körper – er ermöglicht Ausruhen oder Produktivität, er trägt auch Stimmungen, er unterstützt freie Gedanken, manchmal sogar Lebensentwürfe. Gutes Design erinnert uns daran, wer wir sind – oder wer wir sein möchten.

Wer bestimmt eigentlich, was gutes Design ist? Gibt es irgendwo einen geheimen Design-Olymp mit minimalistischen Göttern auf Corbusier-Loungesesseln, die Türgriffe beurteilen?

Natürlich nicht. Und doch – ein bisschen schon. Denn Design ist nie zufällig. Formvollendet ist ein grosses Wort. Es klingt nach Heiligtum. Nach Perfektion. Doch woran misst sich diese Vollendung? An der Funktion? Dem Material? Dem kulturellen Echo? Gutes Design ist sorgfältig und achtsam. Es ist Haltung. Aussage. Kontext. Selbst das scheinbar Chaotische – wenn gut gemacht – folgt einer inneren Ordnung. Es ist der Gegenentwurf zur Beliebigkeit. Was heute Avantgarde ist, kann morgen schon wieder peinlich wirken. Oder eben: zeitlos beständig bleiben. Die Zeit ist wohl der schärfste Kritiker.

Und Mut? Ist Mut Teil des Designs?

Ich meine ja. Gutes Design braucht manchmal Mut – und vielleicht eine Prise Trotz. Mut, gegen aktuelle Trends zu gestalten. Mut, Räume nicht zu überinszenieren. Mut, etwas zu zeigen, das sich dem schnellen Gefallen verweigert. Wer nur dem Zeitgeist folgt, gestaltet für gestern.

Was bedeutet in der Raumgestaltung «Mut zur Stille»?

Diskrete Präsenz statt Präsentation. Mut zur Stille heisst dem Raum das Ego zu nehmen. Es ist der Verzicht auf ein Dauer-Statement, das laute Ich der visuellen Effekthascherei. Stille Räume sind deswegen nicht leer. Sie sind offen. Sie lassen Dinge geschehen: Gespräche, Gedanken, Gefühle. Sie setzen auf Zurückhaltung und Unterstützung. Holz soll atmen, Farben dürfen flüstern. Linien, die bewusst führen, statt zu dominieren. Das braucht Mut. Denn nichts zu verstecken – und trotzdem nicht zu viel zu zeigen – ist vielleicht die schwierigste Balance.

Iria Degen, heute haben wir Ihre mutige Seite kennengelernt. Aber auch die einer Gestalterin, die Raum gibt – für Tiefe, für Widersprüche, für das Unvollendete. Für ein Design, das dem Leben nicht im Wege steht, sondern es trägt. Danke für diesen wertvollen Gedankenaustausch.

Iria Degen Interiors AG
Ackersteinstrasse 119
8049 Zürich
043 311 30 11
iriadegen.com